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POLITiS Studienkreis

Internationales

Berg-Karabach – Republik Arzach

Missachtetes Selbstbestimmungsrecht als Konfliktursache

Derzeit wird die kleine Bergregion Karabach von aserbaidschanischen Truppen mit türkischer Unterstützung großflächig bombardiert. Über tausend Menschen sind umgekommen, 75.000 Bewohner, die Hälfte der Bevölkerung von Arzach, sollen schon geflohen sein. Die 1991 selbst erklärte Republik Arzach ist eine armenische Enklave in Aserbaidschan, deren Status in der Sowjetzeit nie zufriedenstellend gelöst worden ist. In den Kriegen seit 1991 sind mehr als 40.000 Menschen umgekommen, davon 23.000 Armenier. Auch an die 600.000 Azeris sind aus den umstrittenen Gebieten geflüchtet. Mithilfe Armeniens hat die Republik Arzach nämlich eine größere Pufferzone besetzt, um sich gegen neue Offensiven Aserbaidschans militärisch abzusichern.
Das autoritäre Regime in Baku wird von der Erdogan-Despotie militärisch unterstützt, die diesen Kriegseintritt zugunsten des „Brudervolks“ von Aserbaidschan auch im großen Stil propagandistisch ausschlachtet. Diktator Alijev setzt auf die nationale Solidarität im Kampf gegen den äußeren Feind, zumal es in seinem Land wirtschaftlich und sozial immer mehr bergab geht. Auf der anderen Seite steht das demokratische Armenien. Der nach einem demokratischen Frühling gewählte Präsident Paschinjan hat im August 2019 in Stepanakert, der Hauptstadt der Republik Arzach, klipp und klar gesagt: „Arzach ist und bleibt Armenien.“
Die Türkei eröffnet mit der Intervention zugunsten Aserbaidschans einen neuen Kriegsschauplatz gegenüber Armeniens Schutzmacht Russland, neben Syrien und Libyen, um seine Verhandlungsposition auszubauen. Erstaunlich: die Erdogan-Despotie ist trotz ihrer völkerrechtswidrigen und aggressiven Außenpolitik immer noch NATO-Mitglied, also unser Bündnispartner. Nicht erstaunlich: die EU hat wie gewohnt keine einheitliche und klare Position zu diesem Konflikt.
Voraussichtlich wird es, vermittelt durch Russland, die USA und die sog. Minsker-Gruppe der OSZE, zu einem neuen Waffenstillstand kommen mit einer Korrektur der heutigen Pufferzone. Das wäre wiederum keine dauerhafte stabile Lösung. Der 1918 gegründete Staat Aserbaidschan erhielt das Gebiet 1921 und erhebt heute Anspruch auf die Wiederherstellung seiner staatlichen Integrität. Die UN und der Europarat haben in Resolutionen die Rückgabe von Arzach an Aserbaidschan gefordert: eine Fehlentscheidung, die von den Armeniern von Arzach komplett abgelehnt wird: es ist, als ob die Staatengemeinschaft aus 100 Jahren leidvoller Erfahrung nichts gelernt hätte.
Eine stabile Lösung kann nur durch die in verschiedenen UN-Konventionen grundgelegte Anwendung des Selbstbestimmungsrechts erreicht werden, indem den Menschen das Recht auf freie Entscheidung über ihren politischen Status erlaubt wird. Die Staatengemeinschaft muss sich zur Anwendung dieses demokratischen Grundrechts als Friedensinstrument durchringen. In einem zweiten Schritt kann sich das Volk von Arzach für die Integration in den Staat Armenien entscheiden, da diese Mini-Republik als unabhängiger Staat kaum überlebensfähig ist.
Warum Selbstbestimmung? Die Armenier von Berg-Karabach (Arzach, armenische Schreibweise Artsakh) sind schon vor genau 100 Jahren Opfer eklatanter Fehlentscheidungen der Staaten. Ihr Siedlungsgebiet gehört seit Jahrhunderten zum Kern armenischer Gebiete im Kaukasus. Die Friedenskonferenz von Paris konnte sich bezüglich Karabach nicht entscheiden, das schon damals zu 90% von Armeniern bewohnt war. Zwischen Dezember 1920 und Juni 1921 waren sowohl Nachitschewan (heute „autonome“ Region von Aserbaidschan) als auch Berg-Karabach Sowjetarmenien überlassen worden. Auf Drängen der kemalistischen Türkei schlug die Sowjetunion im Juli 1921 beide Gebiete Aserbaidschan zu. Die Armenier von Berg-Karabach wurden einfach übergangen, beharrten aber im 20. Jahrhundert immer auf Wiedervereinigung. Die Anträge des pseudoautonomen Oblast (Kreis) Berg-Karabach aus Aserbaidschan entlassen und Armenien angegliedert zu werden, wurden pauschal abgelehnt. In der Reformperiode seit 1988 bildete sich eine Volksbewegung unter der Losung „Miazum!“ (Vereinigung), die von Aserbaidschan ignoriert wurde. Als sich daraufhin Karabach praktisch geschlossen loslöste, überzog Aserbaidschan die kleine Bergregion mit Krieg.
Somit erleben die Armenier von Arzach derzeit eine neue Runde eines 100 Jahre alten Konflikts. Wenn man heute tausende weiterer Opfer vermeiden will, müssen - nach 100 Jahren Missachtung des Selbstbestimmungsrechts einer kleinen Volksgruppe - die beiden betroffenen Staaten, die Minsker Gruppe der OSZE und die UNO die schwerwiegenden Fehler von damals korrigieren. Beispiel ist der Fall Kosovo: obwohl schon 1913 mit großer Mehrheit von Albaner bewohnt, wurde es nicht Albanien, sondern Serbien zugeschlagen mit allen bekannten Folgen. Es hat nach Krieg und Vertreibung 1999 eine „Sezession als Akt der Notwehr“ erreicht, die international mehrheitlich anerkannt worden ist. Tragisch ist heute die geschichtliche Kontinuität von Völkermordverbrechen: die Nachkommen der Opfer des osmanischen Völkermords an den Armeniern von 1915 werden von Aserbaidschan mit Drohnen aus israelischer Produktion bombardiert, die von der Erdogan-Despotie an Baku geliefert werden, ein Staat, der den Genozid an den Armenier nie anerkannt hat.
Zur Vertiefung zahlreiche Publikationen der Armenien-Spezialistin im deutschen Sprachraum: Tessa Hofmann
BBD, 20.10.2020

Abkommen seit 22.1.2021

Für eine Welt ohne Atomwaffen

Vor einer Woche ist ohne großes Aufsehen der Atomwaffenverbotsvertrag in Kraft getreten, nachdem ihn 50 Staaten ratifiziert haben. Doch im globalen Norden steht immer noch neues Wettrüsten im Raum.
Wohl viele von uns haben vergessen, welche Gefahr die 27.000 aus dem Kalten Krieg verbliebenen und auch später noch entwickelten Atomwaffen für Frieden und die Sicherheit darstellen. Einige werden sich zur Behauptung versteigen – und die sitzen an den Schalthebeln der Macht in den Atomwaffenstaaten – dass diese Waffen den Frieden durch Abschreckung sichern. Doch vor einer Woche ist die Menschheit auf dem Weg zum Verbot dieser Waffen einen wichtigen Schritt weiter. Gestützt auf eine möglichst breite Basis an Unterstützern, von den Gewerkschaften über Religionsgemeinschaften bis zu humanitären Institutionen, hat die ICAN (Internationale Kampagne zur Abschaffung der Atomwaffen) das Inkrafttreten des Atomwaffenverbotsvertrag verkündet. 2007 von der IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs) und anderen Organisationen gegründet, hat die ICAN heute mindestens 470 Mitgliedsorganisationen in 101 Ländern. Für ihren Einsatz für die weltweite und komplette Abschaffung der Atomwaffen ist die ICAN 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden.
Den größten politischen Durchbruch erzielte die ICAN am 7. Juli 2017. 122 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen stimmten für den Vertrag zum völkerrechtlichen Verbot von Atomwaffen, nicht zu verwechseln mit dem Atomwaffensperrvertrag. Während die Schweiz und Österreich als neutrale Länder für den Vertrag stimmten, nahmen Deutschland und Italien an den Verhandlungen gar nicht teil, weil sie sog. „Staaten der nuklearen Teilhabe“ im Rahmen der NATO sind. Wir leben unter einem nuklearen Schutzschild, würde die Regierung in Rom sagen, und könnten nur damit atomarer Bedrohung begegnen. Die Mehrheit der Staaten will aber eine Welt ohne Atomwaffen. Blickt man auf die Weltkarte der Unterstützer, wird klar: der globale Süden ist fast geschlossen dafür, mit Ausnahme der beiden Atommächte Indien und Pakistan. Auf der anderen Seit sind die fünf historischen Atommächte dagegen, aber auch jene Staaten, die Teil einer nuklearen Allianz bilden, also die NATO.
Der Atomwaffensperrvertrag ist 1967 von den historischen Atommächten selbst initiiert worden und mit 191 Vertragsstaaten (2015) haben ihn fast alle UN-Mitgliedsstaaten unterzeichnet. Darin verpflichten sich die Unterzeichner, einen „Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle“ anzustreben. Also genau das, was der heutige Atomwaffenverbotsvertrag bezweckt. Es gibt also seit über 50 Jahren eine bindende Verpflichtung zur vollständigen nuklearen Abrüstung, doch hüten sich heute die Atommächte, dieser Pflicht konkret nachzukommen und ihr Atomarsenal zu verschrotten. Im Gegenteil: einer der wichtigsten Abrüstungsverträge überhaupt, der Washingtoner Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme INF vom 1. Juni 1988 ist seit 2007 zuerst von Russland, dann von den USA in Frage gestellt worden. Weil mehrere neue Atommächte wie Israel, Nordkorea, Indien, Pakistan über Mittelstreckenraketen mit Atomsprengköpfen verfügen, sagt Russland. Der eigentliche Grund war aber wohl die Stationierung des europäischen Raketenabwehrprogramms, das die alten russischen Mittelstreckenraketen unwirksam macht und die gegenseitige Abschreckung unterminiert. Russland wurde verdächtigt, vertragswidrig neue Raketen zu entwickeln und zu stationieren. Nachdem die NATO 2019 festgestellt hatte, dass Russland den INF-Vertrag breche, erklärten die USA am 1. Februar 2019 ihren Austritt. Es entstand im Grunde dieselbe Konfliktlage wie vor 40 Jahren beim Protest der Friedensbewegung gegen die Mittelstreckenraketen in Europa: die NATO will aufrüsten, um Russland zur Abrüstung zu zwingen. Nun hat US-Präsident Biden den Austritt der USA rückgängig gemacht und den INF-Vertrag verlängert.
Fazit: die ICAN ist nach der Ratifizierung des Atomwaffenverbotsvertrags noch lange nicht am Ziel. Die immer noch atomwaffenstrotzenden Atommächte denken nicht daran, diese verheerendste Waffengattung aller Zeiten außer Hand zu geben, sondern arbeiten eifrig an ihrer Modernisierung und Erweiterung, z.B. für ihren Einsatz im Weltraum. In Zeiten des Klimawandels und der enorm hohen Kosten des Klimaschutzes finden diese Staaten, mit Unterstützung der europäischen NATO-Partner, die Mittel für die Aufrüstung statt gemeinsam abzurüsten. Widerstand ist immer noch angesagt. So fordert z.B. Azione Nonviolenta, dass Italien das weltweite Atomwaffenverbot unterstützt und aktiv für die Entfernung aller Atomwaffen von seinem Staatsgebiet eintritt.
SALTO, 30.1.2021

EBI unterschreiben

Für Wählen ohne Grenzen in der EU

Eine Europäische Bürgerinitiative (Volksbegehren an die EU-Kommission) will das aktive und passive Wahlrecht der Unionsbürger stärken und einen Raum für „transnationale Politik“ schaffen.
Im Jahrzehnt 2010-2019 hat sich die Zahl der Unionsbürger, die in anderen EU-Ländern leben, auf 17 Millionen verdoppelt: Arbeitnehmer, Rentnerinnen, Familienangehörige, die auf Dauer in ein anderes EU-Land gezogen sind. Doch weniger als 10% dieser mobilen Unionsbürgerinnen melden sich definitiv von ihrem Herkunftsland ab und nehmen gar die Staatsbürgerschaft des Wohnsitzlandes an. Vermutlich kehren die meisten für wichtige Wahlen und Abstimmungen in ihr Herkunftsland zurück, während sie sich im Wohnsitzland allenfalls bei Kommunalwahlen beteiligen dürfen. Nur relativ wenige tun dies effektiv, wie aus Erhebungen in Südtirol hervorgeht.
Zum einen ist also die Mobilität in der EU aufgrund der Freizügigkeit und Migration gestiegen, zum anderen wird die demokratische Beteiligung – vor allem das Wahlrecht – weiterhin nur aufs Herkunftsland bezogen. Politisch gesehen bleiben in anderen EU-Ländern dauerhaft lebende EU-Bürger Ausländer. So leben etwa Bundesdeutsche und Österreicher seit Jahrzehnten in Südtirol, können jedoch nie für Landtags- oder Parlamentswahlen ihre Stimme abgeben, obwohl ihre Lebensrealität weit mehr von Rom und Bozen bestimmt wird als von Wien und Berlin. Wettgemacht wird dieses Defizit auch nicht durch die kleine Errungenschaft, bei EU-Wahlen und Gemeindewahlen am Wohnsitzort wählen zu können.
Ausgehend von diesem Mangel setzt sich ein Initiativkomitee dafür ein, dass EU-Bürger bei allen Wahlen und Volksabstimmungen entscheiden können sollen, ob sie in ihrem Wohnsitz- oder Herkunftsland daran teilnehmen wollen, auch ohne Staatsbürger zu sein. Bestehende Hindernisse bei der Ausübung des Wahlrechts für Gemeinde- und EU-Wahlen am Wohnsitz sollen beseitig werden. Durch diese Reformen soll ein Defizit der europäischen Demokratie beseitigt und ein Raum für transnationale Politik geschaffen werden. Diese EBI setzt sich drei Hauptziele:
1. Die Unionsbürgerschaft soll zu einer echten Bürgerschaft werden. Unionsbürgerinnen sollen in ihrem Wohnsitzland nicht mehr nur als Gastarbeiterinnen angesehen werden, sondern als gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft.
2. Unionsbürger sollen im Wohnsitzland auch bei Regional- oder Landtagswahlen teilnehmen können, eventuell auch bei Parlamentswahlen. Mit anderen Worten: sie sollen uneingeschränkte Bürgerrechte erhalten, ohne die Staatsbürgerschaft wechseln zu müssen. Tatsächlich ist das Recht auf Wahl der EP-Mitglieder vor Ort nur ein Teil-Recht, denn das wichtigere Machtzentrum der EU, der Europäische Rat, wird nur auf nationaler Basis gewählt. Es gibt keine vom EU-Parlament gewählte Regierung.
3. Die Gewährung uneingeschränkter Bürgerrechte am Wohnort für alle EU-Bürger wird die Integration in die Gesellschaft begünstigen.
4. Die Initiative soll zu einer transnationalen europäischen Demokratie beitragen. Die Freizügigkeit der EU-Bürger und das Wahlrecht sollen als Bürgerrechte in Einklang gebracht werden. So sollen in einem EU-weiten Wahlrecht für die Europaparlamentswahlen länderübergreifende Listen gebildet werden und EU-weit Spitzenkandidaten in allen Mitgliedsländern gewählt werden können.
Die EBI versteht sich als Vorstufe zu einem uneingeschränkten Wahlrecht für alle EU-Bürger, wo immer sie ihren legalen Wohnsitz haben. Allerdings bleibt offen, wie lang jemand in einem andren EU-Land gelebt haben muss und ob er auf sein Wahlrecht im Heimatland dann auf Dauer verzichten muss. Die zweifache Ausübung des Wahlrechts für Landtage und Parlamente wären wiederum ein neues Privileg. Wie die bisher geringe Wahlbeteiligung an den Kommunalwahlen im jeweiligen Wohnsitzland gezeigt hat, ist das politische Interesse der EU-Bürger im Drittland nicht übermäßig groß. Dennoch ist diese EBI unterstützenswert: online-Unterschrift hier. Weitere Informationen auf der Website dieser Initiativgruppe: https://voterswithoutborders.eu/
SALTO, 7.1.2021

Jubiläum

Alles Gute zum Geburtstag, Wikipedia!

Unter einem Jubiläum (lateinisch annus jubilaeus „Jubeljahr“) versteht man eine Erinnerungsfeier bei der Wiederkehr eines besonderen Datums, belehrt Wikipedia. Genau ein solches feiert die online-Enzyklopädie heute, 15.1.2021. An diesem Tag starteten Larry Sanger und Jimmy Wales in San Diego dieses Projekt, nachdem der Vorgänger Nupedia mit klassischer Enzyklopädie-Methode gescheitert war. Die geniale Idee: ein online-Nachschlagwerk als open-source-database zu bearbeiten mit der wiki-software, an der Wissen bottom-up zusammengetragen wird. Im ersten Jahr hatte Wikipedia erst 20.000 Artikel in 18 Sprachen gesammelt. Doch schon 2006 verzeichnete die englische Wikipedia eine Million Einträge. Inzwischen ist sie ein riesiges Wissenslager geworden und vermutlich die meistbesuchte Webseite überhaupt. WIKIPEDIA hat die anderen online-Enzyklopädien weit abgehängt, natürlich auch die „Mutter der Enzyklopädie“ im angelsächsischen Sprachraum, die seit 1768 existierende Britannica.
Nicht mehr ein erlauchter Zirkel von Wissenschaftlern war jetzt zuständig, sondern hunderttausende Menschen konnten ihr Wissen selbst täglich einbringen. Gab es in der Entwicklungsphase viel hämische Kommentare zur mangelhaften Qualität vieler Einträge, Kritik an willkürlicher Zensur von freien Beiträgen, Editierschlachten um politisch umstrittene Themen und zum Grundprinzip einer von unten getragenen Enzyklopädie, hat sich dieser Vorbehalt heute verflüchtigt. Durfte man vor 10-15 Jahren im Wissenschaftsbereich Quellen aus WIKIPEDIA gar nicht mal nennen, sind heute wohl die meisten Wissenschaftler froh, dass es ein solch demokratisch gespeistes Wissenslager gibt.
Das entbindet die nicht gewinnorientierte Trägerorganisation, die Stiftung WIKIMEDIA, nicht von der tagtäglichen Kleinarbeit, permanent den Editierungsprozess zu überprüfen und anhand einer wachsenden Liste von Qualitätskriterien einzugreifen. Das Prinzip hat sich jedenfalls bewährt, kann man nach 20 Jahren behaupten. Sogar finanziell war die Idee von Sanger und Wales ein Erfolg, denn Wikipedia trägt sich finanziell dank Spenden der Nutzer selbst.
Wikipedia hat auch die Sprachenvielfalt gefördert. Der Eintrag „Jubiläum“ ist einer von 2,522.000 Einträgen in der deutschen Version der weltweit größten Enzyklopädie. Damit liegt die deutschsprachige WIKIPEDIA zwar weit hinter der Englischsprachigen mit 6,226.000 Einträgen, aber immerhin vor allen anderen Weltsprachen wie Französisch und Spanisch. Auch die größte Sprache der Welt, das Chinesische, bringt es nur auf 1,247.000 Einträge, doch das hat politische Hintergründe. Für kleine Sprachen und nicht offizielle Minderheitensprachen ist Wikipedia ein Segen. Wo anders könnte jedermensch, der in der Schule Latein gebüffelt hat, in dieser altehrwürdigen Sprache (Amtssprache nur im Vatikan) über aktuelles Tagesgeschehen lesen. Kostprobe von heute: „Numerus morbo COVID-19 probatorum infectorum 50.000.000 superavit. 1,250.000 eo morbo mortui sunt.“ (VICIPAEDIA). Lebende Minderheitensprachen profitieren genauso stark und nutzen diese Möglichkeit immer mehr. So scheinen z.B. Mitte 2020 in der baskischen WIKIPEDIA nicht weniger als 362.821 Beiträge auf, mehr als in manchen offiziellen Amtssprachen der EU. Man findet dort auch die sardische, friaulische und die ladinische Version, die es bisher auf immerhin 1.273 Einträge bringt.
Wer’s noch nicht weiß: WIKIPEDIA gibt’s auch in deutschen Dialekten, wie etwa Plattdüütsch, Letzeburgisch und Alemannisch. Auf immerhin 31.507 Artikel bringt es die Boarische Wikipedia (Servus in da Bayrisch-Östareichischn Wikipedia). Wer zünftig Bayrisch lernen will, ist da gut aufgehoben. Damit können wir Tiroler uns trösten, falls wir uns zu dieser Dialektfamilie zählen, denn unseren Dialekt gibt’s als Wikipedia-Sprachversion anscheinend noch nicht. Dessen ungeachtet: ad multos annos, Wikipedia!
SALTO, 15.1.2021


Uiguren in Ost-Turkestan

11 Jahre nach dem Massaker von Urumqi

Weniger bekannt als jene vom Tien An Men-Platz am 4.6.1989 ist die gewaltsame Niederschlagung der Proteste der Uiguren vom 5.-7. Juli 2009. Seitdem nichts als Repression durch den chinesischen Staat.

Es geschah vom 5. Bis zum 7. Juli 2009. Tausende uigurische Studenten protestierten friedlich gegen Chinas Assimilierungspolitik in Ost-Turkestan, das die Chinesen Xinjiang (Schindschiang) nennen. Es war der Auftakt permanenter Gewalt, die in diesen 11 Jahren zur systematischen Repression aller politischen Freiheiten und zu einer beispiellosen physischen und elektronischen Massenüberwachung ausgeufert ist. Hunderte von Uiguren sind damals getötet worden, Tausende seitdem verschwunden, unzählige verhaftet und gefoltert, über eine Million derzeit in Internierungslagern eingesperrt. Ein Vorgeschmack darauf, was die Demokratiebewegung in Hong Kong nach der Verabschiedung des neuen Sicherheitsgesetzes Pekings erwartet.
Nach dem Massaker vom Juli 2009 in der Hauptstadt Urumqi verhängte die von Peking gesteuerte Regierung der „Autonomen Uigurenregion Xinjiang“ (XUAR) eine monatelange Nachrichtensperre. Internet und Mobilfunknetz waren lahmgelegt. Solche Blackouts wurden seitdem häufig verordnet, ohne dass ausländische Medien überhaupt davon Notiz nahmen, wieder Weltkongress der Uiguren berichtet.
Zu den Vorfällen von Urumqi vor 11 Jahren hat es nie eine unabhängige Untersuchung gegeben, die internationale Staatengemeinschaft hat keine Konsequenzen aus dem Vorgehen gegen die Uiguren gezogen, obwohl diese systematisch ein ganzes Volk und nicht nur einzelne Dissidenten betrifft. Das Fehlen jeder Reaktion im Ausland hat die chinesische Führung geradezu ermuntert, immer schärfer gegen die uigurische Bürgerrechtsbewegung vorzugehen.
Wie schon nach Tien An Men 1989 und in Tibet in den 1990 und speziell im Sommer 2008 verbittet sich China jede „Einmischung“ von außen, sanktioniert diese auf verschiedenste Weise und stellt die Unterdrückung von Millionen von Uiguren als Maßnahme der nationalen Sicherheit und der Prävention von Terror und Sezession dar. Einzelne Gruppen von uigurischen Fundamentalisten werden als Vorwand dafür benutzt, eine schrittweise Auslöschung der kulturellen Identität eines ganzen Volks voranzutreiben.
Die Internierungslager, wo über eine Million Uiguren als Zwangsarbeiter auf Linie gebracht werden sollen, sind nicht nur durch Reportagen unabhängiger Journalisten aufgedeckt worden, sondern auch durch das Leak von Regierungsdokumenten 2019. Während die Repression im Westen Chinas unvermindert weiter geht, markiert das neue Sicherheitsgesetz für Hong Kong, dass Peking im gesamten Bereich seiner Souveränität die völlige Kontrolle ausüben will. In Hong Kong werden jetzt schon die ersten Demokratieaktivisten verhaftet, politische Freiheiten eingeschränkt, Bürgerrechte abgebaut. Im Unterschied zu Ost-Turkestan gibt es diesmal einige politischen Reaktionen auf internationaler Ebene. Wenn es einen Nachweis gebraucht hätte, dass echte Autonomie in China keinen Bestand hat, Xinjiang ist seit 2009 und Hong Kong seit Juni 2020 der unwiderlegbare Beweis dafür.
SALTO, 6.7.2020



Vorschlag für einen neuen internationalen Gedenktag

Ein Tag des Gedenkens an alle Völkermorde

In vielen Ländern wird immer am 27. Jänner des Holocausts gedacht, doch einen internationalen Gedenktag an alle Völkermorde der Geschichte gibt es bis heute nicht. Es gibt aber den „Genocide Memorial Day“, der in einer wachsenden Zahl von Städten begangen wird: so am 17. Jänner 2016 in London, Amsterdam, Barcelona, Birmingham, Brüssel, Jerusalem, Lissabon, Madrid und Paris.
Der Begriff des Völkermords ist von Raphael Lemkin während des 2. Weltkriegs entwickelt worden. Der polnisch-jüdische Jurist und Friedensforscher hatte sich schon vor dem Holocaust intensiv mit dem Völkermord an den Armeniern befasst und im schwedischen Exil den Holocaust zu dokumentieren versucht. Mit Blick auf die Verbrechen an den Armeniern im Osmanischen Reich hatte er dem Völkerbund 1934 einen Entwurf für eine internationale Konvention gegen Genozid vorgelegt. 1947 fertigte Lemkin für die Vereinten Nationen einen neuen Gesetzentwurf an, der 1948 fast unverändert von der VN-Generalversammlung mit 55:0 Stimmen als "Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords" in Kraft gesetzt wurde. Seit 9. Dezember 1948 ist Völkermord ein Straftatbestand im Völkerrecht. Wie wenig abschreckend allerdings diese Konvention wirkte, beweist die lange Reihe neuer Völkermorde in der Nachkriegszeit bis heute.
Die Tragödie des Massenmords des Nazi-Regimes an den Juden Europas wird dabei als eine geschichtlich einzigartige Katastrophe begriffen, als das Verbrechen gegen die Menschlichkeit schlechthin. Jeder Vergleich mit anderen Völkermorden verbat sich oder würde wohl heute noch als Sakrileg empfunden. Doch Völkermord im Sinne von Raphael Lemkin geschah vor und nach dem Holocaust. Der Begriff wurde seit 1948 nach und nach auf Verbrechen angewandt, bei welchen systematisch und gezielt ein Volk oder eine Volksgruppe zur Gänze oder zum Teil vernichtet wurde. In den meisten Fällen wurden diese Verbrechen von Kolonialmächten, diktatorisch regierten Staaten, in verschiedenen Fällen auch von westlichen Demokratien begangen. Man spricht von Völkermord an den Indianern Amerikas, Armeniern, Tataren, Aborigenes Australiens und zahlreichen anderen indigenen Völkern während der Kolonialzeit. Der erste Völkermord des 20. Jahrhundert war übrigens der Massenmord der deutschen Kolonialmacht an den Herero in Deutsch-Südwestafrika (Namibia), dem 80% dieses Volks zum Opfer fiel.
Das Konzept und der Rechtstatbestand des Völkermords kam in der Nachkriegszeit zu tragischer Bedeutung, da es immer wieder zu grauenvollen Genozidverbrechen kam: Biafra, Kambodscha, Vietnam, Kurdistan, Ruanda, Osttimor, Bosnien, Darfur und andere mehr. Im Unterschied zu den Armeniern und zum Holocaust wurden Berichte über aktuelle Völkermorde in den letzten 30-35 Jahren vom Fernsehen direkt in die Wohnzimmer der Europäer transportiert. Medien und Menschenrechtsaktivisten haben eine neue Art der Reaktion, Intervention und Reflexion auf diese Verbrechen ausgelöst. Doch ein global und allgemein verankertes Bewusstsein der moralischen und rechtlichen Verpflichtung der Staatengemeinschaft zum sofortigen Handeln bei Völkermordverbrechen ist noch nicht entstanden. Sonst wären etwa die jahrelangen Verbrechen der sudanesischen Regierung in Darfur oder jene des Assad-Regimes in Syrien nicht toleriert worden.
Auf diesem Hintergrund ist die Debatte zum Völkermord in ein neues Licht gerückt. Der Holocaust steht für Völkermord schlechthin. Der Tag der Shoah, der alljährlich am 27.1. begangen wird, ist Ausdruck der besonderen Verpflichtung und Verantwortung der Deutschen in der Erinnerung an dieses Verbrechen. Er hat vor allem in Deutschland, aber auch in Italien eine unbestrittene Legitimität. Doch an jenem Gedenktag wird im Allgemeinen nicht den Völkermorden als solchen gedacht, weil der Holocaust als geschichtlich einzigartiges Verbrechen betrachtet wird. Das kollektive Gedächtnis der Menschheit muss in Sachen Völkermord weiter reichen. Die Tragödie der Judenvernichtung im Dritten Reich soll damit nicht im Mindesten herabgestuft werden, sondern kann vielmehr in den Fluss einer schrecklichen Kontinuität von Völkermord in der Menschheitsgeschichte gestellt werden, als die extremste Form des Verbrechens, das ansonsten in einem Reich des Unbegreiflichen gefangen blieben. Wie die Juden Europas haben zahlreiche Völker und Volksgruppen ein Schicksal erlitten, das zu ihrer gänzlichen oder teilweisen Ausrottung führte. Es fehlt jedoch bis heute ein Gedenktag, an dem allen Völkermordverbrechen der Menschheitsgeschichte gedacht wird. Nicht nur jener des 20. Jahrhunderts, sondern auch jener, die früher verübt worden und nie als solche von Nachfolgestaaten anerkannt worden sind, wie z.B. die Ausrottung unzähliger Indianervölker Amerikas und anderer indigener Völker in der Kolonialzeit.
Mit einem solchen Tag der Mahnung würde an das Grauen erinnert, das ganzen Völkern und Volksgruppen angetan wurde, um weltweit zu statuieren: nie wieder! Nie wieder nicht nur Auschwitz, sondern auch Armenien, Biafra, Osttimor, Bosnien-Herzegowina, Ruanda. Tschetschenien und Kambodscha. Völkermord ist ein "Menschheitstrauma", es liegt im Bereich des Möglichen, und ist auch in der Zukunft nicht ausgeschlossen. Insofern wäre ein internationaler Gedenktag für die Opfer des Völkermords, ein Nachdenktag über die schlimmsten Akte der Unmenschlichkeit in der Geschichte, mehr als legitim. Der 9. Dezember, Tag der Verabschiedung der Völkermordkonvention der VN, böte sich dafür an.

Thomas Benedikter, September 2012
Leitete in den 1990er Jahren die Gesellschaft für bedrohte Völker in Bozen.




Korsika

Autonomisten auf dem Vormarsch

Überraschend stark haben die korsischen „Nationalisten“ bei den Wahlen für die 63 Sitze des Regionalparlaments am 3. Dezember abgeschnitten. Die von Jean-Guy Talamoni und Gilles Simeoni geführte Bewegung Pè a Corsica (Für Korsika) erreichten 45,36% der Stimmen, die rechtsgerichtete Regionalistenpartei von Jean-Martin Mondolini 14,97% und die Unabhängigkeitsbewegung Rinnovu Nazionale 6,69%. Aufgrund der 7%-Hürde kann U Rinnovu bei der Stichwahl nicht mehr antreten, doch ihre Wähler könnten Pè a Corsica zur Mehrheit verhelfen. Bei den Regionalwahlen 2015 hatte die Autonomiebewegung erst 35% der Stimmen erzielt.

Schwach schnitten am vergangenen Sonntag dagegen die nationalen französischen Parteien ab, obwohl bei den Präsidentschaftswahlen vom Mai 2017 Marine Le Pen in beiden Wahlkreisen Korsikas am meisten Stimmen erhalten hatte. Nun konnten die Korsen erstmals für ein vereinigtes Regionalparlament wählen, denn bisher war die Insel verwaltungsmäßig in zwei Départements geteilt gewesen. Am 1.1.2018 tritt auf Korsika die neue „Collettività Territuriale di Corsica“ in Kraft, die Korsika als Ganzes verwalten wird.

Ziel der korsischen Autonomiebewegung ist ein neues Autonomiestatut mit mehr Legislativrechten sowie die volle Anerkennung des Korsischen als ko-offizielle Amtssprache. Dies soll binnen 10 Jahren umgesetzt werden und danach soll die korsische Bevölkerung direktdemokratisch abstimmen, ob dieses Statut ausreicht oder die Devolution weiter ausgebaut werden soll. Mehr Autonomie können die Korsen brauchen, denn bis heute hat diese Insel noch keine echte Gesetzgebungsautonomie. Das Regionalparlament kann zwar in einer relativ beschränkten Zahl von Sachbereichen Gesetzesvorschläge vorlegen, doch Gesetzeskraft erlangen diese erst durch Verabschiedung seitens der Regierung in Paris.

Korsika ist zwar eine Collectivité territoriale mit mehr Rechten als andere Regionen Frankreichs, liegt aber vergleichsweise noch weit hinter den Autonomen Gemeinschaften Spaniens oder den Regionen mit Sonderstatut Italiens zurück. 2003 hatte die Bevölkerung Korsikas in einem Referendum eine weiterreichende Autonomie abgelehnt. Nun liegt es an der kommenden Regionalversammlung, die am 13. Dezember im zweiten Wahlgang gewählt wird, Druck auf Paris auszuüben, um echte Autonomie durchzusetzen.

Erschienen auf SALTO, 27.12.2017


Griechenland

Plebiszit mit Bauchschmerzen

Am kommenden Sonntag wird Griechenland über die Sparauflagen der Eurozone abstimmen, so will es die Regierung Tsipras.

In besonders wichtigen Fragen kann das griechische Parlament solche Volksabstimmungen ansetzen. Jetzt, wo ihm das Wasser zum Hals steht, wagt Tsipras die Flucht nach vorn und ordnet das an, was 2011 der damalige Ministerpräsident Papandreou ankündigte, doch unter dem Druck der EU schnell wieder fallen ließ. Eine weitere Runde im Poker zwischen Brüssel und Athen, sicher nicht geeignet, der Tsipras-Regierung international mehr Glaubwürdigkeit zu verschaffen.
Es ist das klassische Plebiszit, der von oben angeordnete Volksentscheid, obendrein im Feuerwehrtempo. Eine Regierungsmehrheit will die Verantwortung für eine gravierende Entscheidung nicht alleine tragen, sondern das Volk direkt entscheiden lassen. Eigentlich legitim, doch es findet unter denkbar schlechten Bedingungen statt. Zwar diskutieren die Griechen seit über fünf Jahren über Finanzpolitik, aber den genauen Inhalt des letzten Auflagenpakets der Troika, seine Tragweite und Implikationen kann man nicht im Hauruckverfahren allen erklären und in Ruhe abwägen. Obendrein ruft Tsipras selbst zur Ablehnung auf. Eine echte und faire öffentliche Diskussion über eine so wichtige Frage lässt sich nicht in fünf Tagen durchziehen. Die Qualität einer Entscheidung hängt von der Qualität des Verfahrens ab, der zur Entscheidung führt. Tsipras hätte die Idee früher einbringen sollen, nicht um 5 vor 12.
Zudem gehört Griechenland, obwohl Wiege der Demokratie, zu den Schlusslichtern bei der Regelung und Anwendung von Volksabstimmungsrechten in ganz Europa. Die eigentliche Volksinitiative und das bestätigende Referendum gibt es nicht. Die Bürger selbst können also nichts zur Abstimmung bringen. Die letzte Volksabstimmung fand 1974 statt, als die Monarchie abgeschafft wurde. Im 20. Jahrhundert gab es in Griechenland nur sieben Volksabstimmungen, immer drehte es sich um die Regelung der Monarchie.
Dabei hätte ein Land mit einem so ausgeprägten Klientelismus und ineffizienten Staatsapparat mehr Kontrollrechte der Bürger absolut nötig. Wie in Italien war es auch in Griechenland eine Elite aus zwei mächtigen Parteien verfilzt mit mächtigen Interessengruppen, die sich den Konsens der Wählerschaft auch über überzogene schuldenfinanzierte öffentliche Ausgaben sicherten. Ein funktionsfähiges Steuersystem aufzubauen, war für die griechischen Parteien bisher keine Priorität, auch nicht für SIRYZA. Laut NZZ treibt die Verwaltung nur 56% der geschuldeten Steuern überhaupt ein. Es ist ein bitterer Lernprozess, den die Griechen jetzt mit oder ohne Euro durchmachen müssen, nämlich dass für stabile öffentliche Finanzen eben alle mit ihren Steuern beitragen müssen. Echte direktdemokratische Kontrollrechte von unten und auf allen Ebenen können dies nur unterstützen.

Erschienen auf SALTO, 30.6.2015


People-Bashing

Die „Elite“ mobilisiert gegen das Volk

Kuriose Töne sind aus der Südtiroler Medienwelt im Post-Brexit-Klima zu hören, man könnte es, natürlich britisch, „people-bashing“ nennen.

Man wähnt sich in einer Demokratie mit lauter mündigen Staatsbürgern, doch wenn das Volk nicht nach dem eigenen Gusto entscheidet, möchte man ihm doch gleich wieder das Stimmrecht entziehen. Nur einige Beispiele dafür, wie sich Menschen der „Elite“ Sorgen darüber machen, dass das gemeine Stimmvolk zu viel Rechte bekommen und damit zu viel Unheil anrichten könnte.
Da mokiert sich der Herausgeber der FF darüber, dass die Südtiroler beim Flughafenreferendum dagegen stimmen würden, damit Südtirol bleibt, wie es ist „so wie ich die Südtiroler Bäuche kenne“ (Zimmermann). Der Mann hatte schlicht vergessen, dass zumindest die Bozner zwei Monate vorher für das Benko-Projekt gestimmt hatten, also für den auch von Zimmermann erwünschten Modernisierungsschub für Bozen, mit dem Kopf versteht sich. Die Südtiroler sind demnach zwischen Bauch und Kopf ganz schön hin- und hergerissen. Als erschwerender Umstand für Zimmermann kommt dabei ins Spiel, dass er Schweizer ist: könnte er seinen abstimmungsgewohnten Landsleuten unterstellen, dass sie aus dem Bauch heraus votieren, wenn ihm das Ergebnis nicht passt, dass sie aber mit Kopf stimmen, wenn das Ergebnis passt?
In einer Runde von Kulturschaffenden auf RAI Südtirol (25.6.2016) tritt Maxi Obexer für die Schriftsteller auf und möchte Volksabstimmungen über wichtige Fragen wie die EU-Mitgliedschaft lieber für tabu erklären. Ich habe diese Autorin noch nie darüber klagen hören, dass die italienische Wählerschaft besser nicht über Scheidung, Abtreibung, Wahlgesetze und Atomkraft abstimmen solle, wichtige Themen, die aus ihrer Sicht dann auch die Fassungskraft des Durchschnittsbürgers übersteigen müssen. Wieder dasselbe Muster: entscheidet das Volk „richtig“, also so wie man selbst, alles klar. Wenn nicht, muss an diesem Instrument der Volksabstimmung etwas faul sein.
So kann es schon gar nicht überraschen, dass ein Redakteur eines Südtiroler Boulevardblatts, das sich vermutlich nur an die aufgeklärte Elite wendet, ernsthaft in einem RAI-Mittagsmagazin Spezial (30.6.16) dafür plädiert, für solche Themen wie die EU-Mitgliedschaft ein 75%-Quorum festzulegen (tatsächlich gingen 72% hin). Wären 76% hingegangen, hätte dieser Redakteur vermutlich ein 80%-Quorum vorgeschlagen. Ich habe in dieser Zeitung nie von solchen Quorumsforderungen gelesen für die zahlreichen Volksabstimmungen, die einen EU-Beitritt des jeweiligen Landes herbeigeführt haben. Dem britischen Staatsvolk als Südtiroler das Recht auf Volksabstimmung über wichtige Fragen abzusprechen, ist zudem kurios, denn in Demokratiefragen sind gerade die Engländer schon etwas länger unterwegs als wir.
Gerhard Mumelter versteigt sich in derselben Sendung zur Aussage, dass beim BREXIT die Alten über die Jungen entschieden hätten, weil die Jungen wohl allesamt für die EU seien. Laut Umfragen waren Jüngere eher für das Remain, doch welche Analyse der Abstimmung nach Altersgruppen hat er zur Hand? Doch stellt Mumelter damit diese Frage: ab welchem Alter muss den Staatsbürgern eigentlich das Wahl- und Abstimmungsrecht entzogen werden? Gehörst du auch schon zu dieser Altersgruppe, lieber Gerhard, die morgen nicht mehr abstimmen darf, weil es um „die Zukunft des Landes“ geht?
An dieser Stelle könnte ich fortfahren mit anderen Kommentatoren, die noch nie ein gutes Haar an Volksabstimmungen gelassen haben, und zwar immer wieder nach diesem Muster: wenn einem das Ergebnis passt, alles klar, gut gemacht Volk, hast vernünftig mit dem Kopf entschieden. Wenn einem das Ergebnis nicht passt, wird der Spiegel (die Volksabstimmung) zertrümmert, der die aktuelle Realität (die Positionen im Volk) gezeigt hat. Die Bürger werden für unfähig erklärt, komplexere Sachverhalte zu begreifen. Oder wie Lucio Giudiceandrea dies in jener Sendung (RAI Südtirol, 30.6.2016) formulierte: Das Volk hat beim BREXIT so mit dem Bauch abgestimmt, wie es in der Eisdiele zwischen Erdbeere und Vanille entscheidet. Dabei macht dieser RAI-Redakteur absolut gute Arbeit und die RAI hat höchste Einschaltquoten: sind die Menschen denn während seiner Sendungen immer alle in der Eisdiele?
Notabene: Obwohl der BREXIT für die EU auch Vorteile birgt, bedaure ich den Ausgang dieser Abstimmung, doch die Briten müssen wissen, was für sie besser ist, nicht ich. Ein Dank einem Kollegen aus Thüringen, der diese Frage noch besser auf den Punkt bringt, und zwar hier.

SALTO, 2.7.2016


Syrien

Wettlauf im Staatsterror

IS-Chef Al-Baghdadi wird sich derzeit mit einem Gemisch aus Schadenfreude und Neid auf Al Jazeera die Entwicklungen im Westen Syriens mitverfolgen.

Ihm, dem Oberterroristen, laufen inzwischen Russland, die Türkei und Saudi Arabien mit ganz anderer Munition den Rang ab. Ganz zu schweigen vom Assad-Regime, das in fünf Jahren Krieg gegen sein Volk 250.000 Opfer in Kauf genommen hat, die letzten gestern durch das gezielte Bombardement einer Klinik der Ärzte ohne Grenzen in Idlib.

Dass Putins Russland nicht zögert, dem Verbündeten Assad den Weg zur Wiederbesetzung seines Landes freizubomben, war zu erwarten. Nachdem es Assad allein mit russischem Material und Technikern nicht geschafft hat, müssen die Russen jetzt im Tiefflug selbst dran. Dass Putin vor Blutbädern an der Zivilbevölkerung nicht zurückschreckt, hat er schon in zwei Tschetschenien-Kriegen gezeigt. Dass er Rebellen ganz nach strategischem Kalkül einmal unterstützt (Ukraine), dann wieder bekämpft (Syrien), Gebiete eines anderen Staats annektiert (Krim) oder wieder unter die Herrschaft der Regierung bringt (Syrien) passt zur ganz wertfreien Außenpolitik dieses Landes. Wird er von westlichen Staaten für die Syrien-Intervention kritisiert, kann er auf den Irak und Afghanistaneinsatz des Westens verweisen. Nur peinlich, wenn US-Kerry und Putins Sekundant Lawrow sich die Hand reichen zum Zeichen des Einverständnisses, dass Russland die Schlächterei noch eine Woche fortsetzen darf. Diese Peinlichkeit wird nur mehr übertroffen von Seehofers Besuch bei Putin, der ihm durch seine Bombardements die syrischen Flüchtlinge geradezu in „Live-Schaltung“ nach Bayern treibt.

Peinlich für den Westen allerdings auch die katastrophale Politik des NATO-Mitglieds Türkei. Erdogan begnügt sich nicht mehr damit, kurdische Jugendliche in den Städten der Südosttürkei zu Hunderten zu massakrieren, sondern beschießt seit einigen Tagen auch die Kurden Syriens. Diese haben sich erfolgreich gegen den IS gewendet und kämpfen für Autonomie innerhalb Syriens. Während Assad Aleppo platt bombardieren lässt und 70.000 Flüchtlinge an der Grenze zur Türkei warten, findet Erdogan nichts wichtiger, als eine weitere Front zu eröffnen.

Peinlich schließlich auch Angela Merkel, die sich gestern – fünf Jahre nach dem Beginn der Rebellion und des Bürgerkriegs in Syrien – erstmals für eine Flugverbotszone ausgesprochen hat. Damit geht die Kanzlerin auf einen Vorschlag der Türkei ein, den Deutschland und die westlichen Länder stets abgelehnt hatten. Amerikanische, französische, britische und deutsche Kampfjets sind in Syrien längst im Anti-Terror-Einsatz gegen den IS und finden schon kaum mehr Ziele. Nur für den weit massiveren Bombenterror der Russen im Auftrag Assads erklären sie sich für nicht zuständig. Statt Ursachen anzugehen kreuzt die NATO-Streitmacht in der Ägäis, um syrische Flüchtlinge abzuschrecken.
UN-Sicherheitsratsmitglied Russland zerstört Kliniken in einem fremden Land, UN-Sicherheitsratsmitglied USA hat mit seinem Einmarsch im Irak 2003 das ganze Schlammassel in Gang gesetzt, die UN-Sicherheitsratsmitglieder Frankreich und Großbritannien werden sich mit der EU einige Monate nach der erfolgreichen Wiederbesetzung der befreiten Gebiete durch Assad-Truppen sich darauf einigen, dass es eine Flugverbotszone braucht und einen frommen Appell verabschieden, Saudi Arabien verübt mit amerikanischen und deutschen Waffen Massaker an Zivilisten im Jemen. Kein Wunder, dass sogar Al-Baghdadi denken wird: irgendetwas stimmt nicht an der gängigen Definition von Terror.

SALTO, 16.2.2016


EU-Report zur Migration

EU verstärkt Kontrolle der Migration

Die EU will die ungeregelte Zuwanderung in den Griff bekommt, erhöht stark die Ausgaben und erzielt dabei zumindest Teilerfolge.

Wie aus dem neuesten Report der Europäischen Kommission zur Migration vom 3. März 2019 hervorgeht, hat die EU seit Verabschiedung ihrer „Agenda zur Migration 2015“ in der Steuerung der Migration wesentliche Fortschritte erzielt. Der Report belässt es – wohl im Vorfeld der EP-Wahlen vom 26. Mai – nicht nur bei aktuellen Daten und Fakten, sondern geht noch stärker auf die politische Zielrichtung der Steuerung der Migration vor allem aus Afrika ein. Die EU habe die „Zuwanderungskrise“ von 2015 hinter sich gelassen und die irregulären Ankünfte auf ein Zehntel des Umfangs von 2015 gedrückt. 2018 waren nur mehr 150.000 irreguläre Grenzübertritte auf EU-Gebiet zu verzeichnen. Allerdings „ist dieser Rückgang der irregulären Ankünfte keine Garantie für die Zukunft, weil der Migrationsdruck in nächster Zukunft mit größter Wahrscheinlichkeit anhält“, sagte der zuständige EU-Kommissar Frans Timmermans bei der Vorstellung des Reports im März 2019.

Im Gegensatz zu oft verbreiteten Fake-News, dass die EU die von irregulären Ankünften am meisten betroffenen Mittelmeerländer im Stich lasse, hat die EU 2018 diese Staaten finanziell stärker unterstützt: Griechenland erhielt 2018 für die Flüchtlingsaufnahme zwei Milliarden Euro, Italien 885 Millionen, Spanien 708 Millionen. Schon 2016 war auf EU-Ebene ein verpflichtender Mechanismus zur Umverteilung von 160.000 Migranten und Asylantragstellern verabschiedet worden, der von den verschiedenen Mitgliedstaaten sabotiert worden sei, aber nicht von der EU als solcher. Im kommenden langfristigen EU-Haushaltsvoranschlag 2021-2027 habe die EU-Kommission die Verdreifachung der EU-Ausgaben für diese Zwecke auf 34,9 Mrd. Euro vorgeschlagen. Darüber muss das neue EU-Parlament befinden.

Für den Schutz der Außengrenzen, insbesondere die Grenzschutzagentur FRONTEX, werden in diesem Voranschlag 12 Mrd. Euro veranschlagt. FRONTEX soll zu einer ständigen echten Grenzschutzeinheit mit 10.000 Mitgliedern ausgebaut werden. Die eigentliche Neuigkeit sei aber die Schaffung eines Fonds zum integrierten gemeinschaftlichen Grenzmanagement. Dieses insgesamt 9,3 Mrd. Euro schwere Paket wird den Mitgliedsstaaten Direktbeiträge von 4,8 Mrd. für den nationalen Grenzschutz, 3,2 Mrd. Euro für dringenden Bedarf und Sonderprojekte in allen EU-Territorien sowie 1,3 Mrd. Euro für die Modernisierung der Zollverfahren an den Außengrenzen zusichern.

Besonders interessant die Vorhaben der EU zur Migrationssteuerung in den südlichen Nachbarländern in Afrika und der Türkei. Mit letzterer soll die 2016 begonnene Zusammenarbeit zur Grenzkontrolle, Rückführung und Unterstützung der Flüchtlingseinrichtungen fortgeführt werden. Vertieft werden soll die Zusammenarbeit mit Marokko, das als Filter für Wanderungsbewegungen nach Europa auf der sog. Westroute übers Mittelmeer gilt. Besonderes Augenmerk widmet die EU, sichtlich unter Druck der italienischen Regierung, der verstärkten Kontrolle der zentralen Mittelmeerroute von Libyen aus. Hier laufen bereits verschiedene Maßnahmen zum Aufbau von Aufnahmelagern in Libyen und im Niger, die zur international überwachten Unterbringung und Rückführung von Migranten dienen sollen. In Zusammenarbeit mit der OIM und dem UNHCR will die EU nicht nur diese Art von „Filter“ stärken, sondern auch mit weiteren afrikanischen Staaten Partnerschaften aufbauen. Mit 10 afrikanischen Staaten seien inzwischen Rückführungsabkommen von abgelehnten Asylbewerbern getroffen worden. Hier dieser Report der EU zur Migration.

SALTO, 3.3.2019


TTIP-Irland-Asylpolitik

Die EU drängt zur Skepsis

Euroskeptiker nennen die Medien EU-kritische Kräfte und Parteien, oft in einem Satz mit Populismus. Doch es ist die EU selbst, die dieses Phänomen laufend befeuert. Drei eklatante Beispiele.

Das aktuelle Beispiel zuerst: die EU-Kommission verlangt von Apple eine Steuernachzahlung von 13 Milliarden Euro, weil Apple in Irland in den Jahren 2003-2014 unrechtmäßige Steuervergünstigungen erhalten hat. Der Konzern hatte als gezielten Steuernachlass einen Steuersatz auf seinen Unternehmensgewinn von 0,005% zu zahlen. Ein florierender Weltkonzern - gemessen am Gewinn war Apple 2015 auf Platz 1 der in den Forbes Global 2000 gelisteten Welt-Unternehmen - versorgt die ganze EU aus einer Art Steueroase namens Irland, zum Schaden der übrigen EU-Länder und Steuerzahler. So lässt es sich leicht zum celtic tiger werden. Nun der Clou: Irland will die Steuerstrafe nicht mittragen, will also dieses Geld gar nicht zurück, weil es um den Unternehmensstandort fürchtet, sprich um seine Steueroase. Dabei erhält Irland Milliarden an EU-Subventionen. Da merkt der ganz normale EU-Steuerzahler, wie es in der EU läuft. Jahrelang können Weltkonzerne Gewinne aus dem EU-Geschäft praktisch gewinnsteuerfrei einstecken, und das nach irischem, also EU-kompatiblem Gesetz. Anderen Ländern und Regionen, einschließlich Südtirol, wird bei Wettbewerbsbeschränkungen schnell auf die Finger geklopft. Kein Wunder, dass sich viele fragen: brauchen wir die EU dafür? Und andere schließen richtig aus diesem Fall: wenn dies legal war – und darauf klagt jetzt natürlich Apple - schadet die EU 400 Millionen europäischen Steuerzahlern.

Beispiel 2: CETA und TTIP. Die EU war drauf und dran, diese beiden Freihandelsabkommen mit Kanada und den USA klammheimlich auszuverhandeln und vom EU-Parlament schnell durchwinken zu lassen. Die geplanten Handelsabkommen TTIP und CETA drücken nicht nur Standards in der Umwelt- und Sozialpolitik, fördert den Freihandel zum Schaden des Klimas und der Entwicklungsländer, sondern bedrohen auch rechtsstaatliche Prinzipien und demokratische Mitbestimmung. TTIP hebelt die Parlamente in ihrer legislativen Souveränität aus, zum Nutzen der Konzerne. Ein Bündnis von über 500 Organisationen aus allen 28 EU-Mitgliedstaaten hat insgesamt 3.284.289 Unterschriften in einer selbstorganisierten Europäischen Bürgerinitiative (EBI) gegen TTIP und CETA gesammelt, die die EU-Kommission vom Tisch gewischt hat. Die bundesdeutschen TTIP-Gegner fordern nun einen Volksentscheid über CETA und TTIP. Der Kampf gegen TTIP ist noch nicht gewonnen, doch genau dieses Thema hat Millionen Europäer skeptisch werden lassen: warum will uns Brüssel weniger Demokratie-Rechte, milliardenschwere Konzernklagen gegen Staaten, schlechtere Konsumentenrechte und niedrige Umweltstandards unterschieben? Brauchen wir eine solche EU?

Drittes Beispiel: die Asylpolitik, die schon längst vor allem eine europäische Regulierungsaufgabe ist. Die 2015 beschlossene Verteilung der Asylbewerber nach einem Quotensystem auf alle Mitgliedsländer ist kläglich gescheitert. Es gibt keinen ausreichenden Grenzschutz, einen wachsenden Missbrauch des Asylrechts, aber auch keine ausreichende Betreuung und Integration der anerkannten Flüchtlinge. Schließlich betreibt die EU auch keine überzeugende Politik gegenüber den Herkunftsländern der Migranten, nicht einmal in den akuten Krisen wie etwa Syrien. Die Visegrad-Staaten können sich aus den EU-Regeln einfach ausklammern, die südeuropäischen Länder müssen die Hauptlast der Neuankünfte tragen. Am 13. Juli hat die EU-Kommission ihr Reformpaket für ein gemeinsames EU-Asylsystem vorgelegt im Sinne einer „effizienten, fairen und humanen Asylpolitik“. Es soll die Asylverfahren beschleunigen, Asylmissbrauch verhindern und Integration verbessern für jene, die internationalen Schutz benötigen. Wenn dies durchgeht, wird es ein Baustein für ein solides, stimmiges und integriertes EU-Asylsystem auf der Grundlage gemeinschaftlicher Regelung und den EU-Grundrechten. Wenn nicht, wird wiederum die Skepsis befördert, dass die EU wichtige Aufgaben noch gemeinsam meistern kann. Die EU-Bürger messen die EU daran und sind zu Recht enttäuscht, wenn die Politik nicht liefert. Es ist die EU selbst, die die Skepsis unter den Menschen befördert, politische Kräfte greifen das nur dankbar auf. Es geht auch nicht um „Euroskepsis“ an sich, sehr wohl um eine EU-Skepsis.

SALTO, 6.9.2016


BREXIT

EU kommt ohne Briten besser voran

Die Briten haben sich gegen die EU entschieden, und das wird in Kontinentaleuropa jetzt breit bedauert. Dabei übersieht man viele Vorteile, die sich für die EU ohne Briten bieten.

Großbritannien hat sich in diesen vier Jahrzehnten einer tieferen Integration immer entgegengestellt, hat kleinlich monetäre Beiträge und Vorteile aufgerechnet (Mit „I want my money back“, nervte Thatcher immer wieder), dauernd für internen Konflikt gesorgt und gute Lösungen blockiert. London hat sich nicht nur einen Extra-Rabatt bei den Finanzbeiträgen zur EU herausgeholt, sondern unzählige Ausnahmeregelungen bis hin zur Ausklammerung Großbritanniens vom Grundrechtekatalog der Lissaboner Verträge von 2007. Das war ein schlechtes Beispiel für andere Mitgliedstaaten und ein Schaden für die EU insgesamt.

Nach dem BREXIT kann es zu einer einheitlicheren EU kommen, können die Rechte und Pflichten der Mitgliedschaft in einem supranationalen Staatenverbund wieder stärker herausgestellt werden, können die EU-internen Konflikte wesentlichen verringert werden. Ohne die Bremser aus London kann die EU besser zusammenfinden, kann die Integration rascher vertieft werden. Staaten, die den traditionell neoliberalen Kurs Londons in der Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht mittragen, können nun für die kontinentale EU fairere gemeinsame Lösungen finden. So kann die EU jetzt Ernst machen mit der Finanztransaktionssteuer, mit der strikteren Regulierung der Finanzmärkte, mit der Bankenunion, mit einer Absage an neue Freihandelsabkommen. Sie kann die eigenen Finanzplätze begünstigen und jene ausbauen, die in der Eurozone liegen. Sie kann den Euro insgesamt stärken. Die EU nach dem BREXIT braucht nicht mehr ans „Europa der zwei Geschwindigkeiten„ zu denken, sondern ist selbst schon das integrationswilligere Kerneuropa.
Allerdings muss der BREXIT auch wirklich stattfinden und darf nicht zu lange dauern. Das bedeutet, dass Großbritannien zum Drittland wird, das auch in der Handelspolitik die Vorteile des gemeinsamen Europas nicht mehr als Trittbrettfahrer nutzen darf.

Wenn London dagegen die meisten Vorteile der heutigen Mitgliedschaft durch andere Arrangements behielte, käme dies einer Einladung an andere EU-skeptische Länder gleich, dem britischen Beispiel zu folgen. Wer einen Club verlässt, darf aber seine Vorteile nicht mehr in Anspruch nehmen. Kein Zweifel, dass der BREXIT auch Anlass für die EU sein muss, sich an die eigene Brust zu klopfen. Die EU ist in vielen Politikfeldern nicht so aufgestellt, quer durch den Kontinent große Europabegeisterung auszulösen. Die Unfähigkeit, die Migrations- und Flüchtlingsfrage human und wirksam zu regeln, hat zur breiten Ablehnung der EU in England wesentlich beigetragen, denn in Großbritannien war gerade die Zuwanderung eines der zentralen Motive für das Brexit-Votum (und zwar vor allem von EU-Ausländern). Dies bedeutet nicht, die Grundsäule der Freizügigkeit der Personen in Frage zu stellen, sondern die Migration innerhalb und die Zuwanderung von außerhalb besser als bisher zu regeln.

SALTO 25.6.2016


Neuer Staat

Ein globaler, souveräner Staat: Atlantium

In Zeiten des Islamischen Staats, zerfallender Staaten von Syrien über Somalia bis zum Südsudan und neuen autoritären Staaten (Russland, Türkei) haben Menschen anderswo den Mut, einen neuen Staat zu gründen: Atlantium.

Kein Witz, es gibt ihn, doch etwas anders als man sich gemeinhin einen Staat vorstellt. Sein Territorium liegt am anderen Ende der Welt, einem Vorort von Sydney. Seit Staatsvolk definiert sich weder ethnisch noch national, sondern ideell, seine Staatsmacht ist noch beschränkt, in fieri sozusagen.
Der Zweck von Atlantium ist gerade der: die bisherige Vorstellung von Staat zu überdenken. Das bisherige Konzept von Staat, so die Gründer von Atlantium, gegründet auf Territorium, Staatsvolk und Staatsgewalt, sei überholt. In einer globalisierten Welt müssen territorial gebundene Herrschaftsansprüche anderen Formen von ethisch begründeter Staatlichkeit weichen. Menschen bewegen sich heute mehr als je zuvor, territoriale und nationale Bindungen lösen sich immer mehr auf, subjektive Loyalität zu Staaten wird fluide, obwohl immer noch eine Pass brauchen, um auszureisen. Die Souveränität meines Staats kann sich nur auf den Willen seiner Bürger und Bürgerinnen gründen. Deshalb ist Atlantium ein extraterritorialer, transnationaler und interkultureller Staat, seine Bürger authentische Weltbürger.
Kurz nach der Gründung von Atlantium im November 1981 verabschiedeten seine Gründer feierlich eine Verfassung und gaben sich einen neuen Kalender, der von der letzten Eiszeit ausgeht, also dem Beginn des Anthropozäns. Auch das ein Privileg eines Staats. Eine seiner offiziellen Sprachen ist Latein, und das verbindet Atlantium wiederum mit dem kleinsten Staat der Erde, dem Vatikan, der fast ohne Territorium eine ideelle Gemeinschaft sein will.
Atlantium brachte Briefmarken, Münzen und Banknoten heraus, bedruckt mit dem Adler als Staatswappen und dem Konterfei des Staatsoberhaupts, primus inter pares George II. Atlantium vergibt auch schon Orden: http://www.atlantium.org/honours.html. Staatsbürger wird man durch Ausfüllen eines online-Antrags: es gäbe schon an die tausend Getreue in vielen Staaten erklärt das Protokollamt. Überdies sei die Zeit, Staatsbürger zu werden günstig, da man in Atlantium noch keine Steuern zahlt. Atlantium umfasste zunächst als Staatsgebiet nur eine Wohnung von Sydney, inzwischen ein ganzes umzäuntes Anwesen in einem Vorort von Sydney, nicht ganz im Sin der Staatsidee. Hier hat Atlantium – wie der Vatikan in Rom- seine zeremonielle Basis und sein Verwaltungszentrum.
Im Unterschied zu den meisten anderen Staaten stellt Atlantium seinen Bürgern keine Pässe aus, vertritt vielmehr das Grundrecht aller Menschen auf Freizügigkeit und Reisefreiheit auf dem ganzen Planeten. Dies in krassem Gegensatz zum Staat, der bis dato Atlantium beherbergt, denn Australien hat eine sehr restriktive Einwanderungspolitik. Atlantium hat wenig Aussichten, in die Vereinten Nationen aufgenommen zu werden, doch in vielen Jahrhunderten, wenn es einst einen grenzenlosen Weltstaat gibt, wird man an Atlantium zurückdenken und ihm auf jenem Anwesen in Sydney ein kleines Denkmal setzen.
SALTO, 2016


In memoriam

Der andere David Bowie

Am 10. Jänner ist David Bowie 69-jährig verstorben, einer der ganz Großen der Popgeschichte. Er war nicht nur ein Mega-Star, sondern auch politisch und humanitär engagiert, im Unterschied zu einigen anderen Stars wie Bono oder Lennon eher im Stillen. So dürfte sein Einsatz für Unterdrückte und gegen Diskriminierung Wenigen bekannt geworden sein.
In seiner LP Heroes (1977), die er während eines längeren Berlin-Aufenthalts einspielte, erzählt er die Geschichte einer großen Liebe. Das Paar traf sich immer irgendwo an der Mauer. Berlin war geteilt und die Wiedervereinigung schien ferne Utopie. Bowie empfand Berlin als eine offene Wunde mitten in Europa. Als er 1987 im Rahmen einer Konzerttournee in die Stadt zurückkehrte, sang er natürlich den Titelsong seiner LP Heroes und wandte sich dann auf Deutsch ans Publikum: „Wir grüßen unsere Freunde auf der anderen Seite der Mauer.“ Als Außenminister Frank Walter Steinmeier vor einer Woche von seinem Tod erfuhr, twitterte er: „Leb wohl, David Bowie, jetzt bist du endgültig unter den Helden. Danke für deine Hilfe, die Berliner Mauer zu Fall zu bringen!“
1983 hielt sich der Popstar eine Weile in Australien auf, um zur gleichnamigen LP das Video „Let’s dance“ einzuspielen. Dabei lernte er die Lage der australischen Aborigenes kennen und war zutiefst bedrückt von ihrer immer noch andauernden Diskriminierung. Bowie scheute sich nicht, Australien aus diesem Grund mit Südafrika zu vergleichen („Hier gibt es immer noch Apartheid“). Im Video „Let’s dance“ treten auch zwei Tänzer der Aborigines auf, Joelene King und Terry Roberts. Einige Bilder zeigen die Arbeitsbedingungen der indigenen Bevölkerung, die vor allem mit bad jobs ihr Auskommen finden müssen. Joelene King hat deshalb Bowie nach seinem Tod nochmals gedankt.
Nach seiner Beteiligung beim berühmten Live Aid-Konzert 1985 engagierte sich David Bowie zusammen mit Brian Eno für Bosnien. Während der Belagerung von Sarajevo 1994 traf er in London mit dem bosnischen Regierungschef Haris Silajdzic zusammen und schlug ihm vor, in Sarajevo ein großes Konzert abzuhalten, um die Belagerung aufzulösen. Silajdzic war begeistert, doch die Idee konnte nicht umgesetzt werden. Drei Jahre nach Kriegsende in Bosnien beteiligt sich Bowie an der Kampagne „Let us play“, getragen von War Child, eine Hilfsorganisation zum Schutz der Kinder im Krieg.
Am 20. Oktober 2011 eröffnete David Bowie im Madison Square Garden in New York das Gedenkkonzert für die Opfer des 11. September 2001 mit dem berühmten Song von Simon und Garfunkel „America“ und mit seinem Heroes. Später widmete sich Bowie auch der Malerei und stellte den Erlös seiner Arbeiten einem Fonds für afrikanische Kinder zur Verfügung. Darüber hinaus unterstützte er zahlreiche weitere Menschenrechts-organisationen, von Amnesty bis zu den Tsunami-Opfern von 2011. Der obige Titel ist somit gar nicht glücklich. Das war nicht „der andere Bowie“, sondern nur eine Seite von ihm, die on stage nicht so sichtbar war. Fare well David Bowie.

(in Zusammenarbeit mit Alessandro Michelucci) , SALTO, 18.1.2016


Israel-Palästina

70 Jahre Israel: nichts zu feiern

In diesen Tagen beging das offizielle Israel den 70. Jahrtag seiner Gründung. Die Gründung eines Staats durch Vertreibung eines anderen Volks verspricht von vornherein nichts Gutes.

Das hat sich in diesen 70 Jahren leider permanent bewahrheitet, denn bekanntlich reichte Israel sein von der UN zugesprochenes Territorium nicht. Im 6-Tage-Krieg von 1967 besetzte es den restlichen Teil Palästinas, später noch den Gazastreifen und die Golan-Höhen, Gebiete, die es außer der inzwischen geräumten Sinai-Halbinsel heute noch völkerrechtswidrig besetzt hält. Israel ist einer der wenigen Staaten, die auf Dauer eine militärische Okkupation aufrechterhalten. Auch diese ist in Israel 2017 zum 50. Jahrestag des 6-Tage-Kriegs von 1967 groß gefeiert worden, während das Militär Hunderte von Demonstranten einfach niederschießt. Dieser von der UN 1948 erlaubte Gewaltakt wird deshalb von den Palästinensern als Trauertag der „Nakba“ (Vertreibung 1947/48) begangen.
Die Vertreibung 1948, die Annexion Ostjerusalems und die über 50 Jahre währende Besatzung des Westjordanlandes ist dauerhafter Bruch des Völkerrechts, der nur dank der ungebrochenen Komplizenschaft der USA weitergeführt werden kann. Die UNO hat die Besatzung und Besiedlung mit über 300.000 meist extremistischen Siedlern in der Resolution Nr. 2334 des Sicherheitsrats als „Siedlungen ohne Rechtsgrundlage“ eingestuft. Das offizielle Israel hingegen betrachtet diese Besatzung als legitime Gebietsaneignung unter dem Motto „Befreiung von Judäa und Samaria, des Golan und Jordantals“. Wer weiß, wie selbstverständlich heute in Israel das gesamte Groß-Israel (Eretz Israel) als angestammtes Staatsgebiet betrachtet wird, kann jede Zwei-Staaten-Lösung nur als Illusion betrachten. Auf einen „Friedensdialog“ zu diesem Lösungsvorschlag hat sich Israel aufgrund des fehlenden internationalen Drucks auch nie ernsthaft bereitgefunden. Allerdings muss auch daran erinnert werden, dass dieses historische Unrecht schon vor 100 Jahren durch die damalige Kolonialmacht England mit Duldung der ersten Zionistenkolonien grundgelegt wurde.
Völlig verdrängt wird im heutigen Israel das Leid der vertriebenen Palästinenser, ihre scheibchenweise Enteignung, die täglichen Schikanen aller Art, die prekäre Lage des Gazastreifens, das wie ein „homeland“ abgeschlossen ist. Gegenüber Südafrika mit seinen homelands hat die Staatengemeinschaft noch in den 1990er Jahren harte Sanktionen ergriffen. Mit Israel pflegt der Westen florierende Geschäfte aller Art einschließlich seiner Aufrüstung. Dabei verbindet Israel und das frühere Südafrika eines: die Apartheid. Das ist die These des israelischen Forschers Ilan Pappe, der in seinem Werk „Israel and South Africa: the Many Faces of Apartheid“ (Zed Books, London 2015) mit seinen Mitautoren nachweist, warum Apartheid auf das israelische System von Staat und Gesellschaft zutrifft, obwohl der Kontext verschieden ist. Nicht von ungefähr hat die UN-Vollversammlung mit Resolution 3379 den Zionismus mit Rassismus verglichen. Diese Resolution ist am 16.12.1991 auf Druck der US-Regierung (Bush senior) zurückgenommen worden. Das Buch des an der Universität Exeter lehrenden antizionistischen Historikers belegt auch, dass bei Weitem nicht alle jüdischen Wissenschaftler die Politik Israels unterstützen. Pappe hat auch "The Ethnic Cleansing of Palestine" (Oneworld Publications, 2007) herausgebracht, das auf Italienisch mit dem Titel "La pulizia etnica della Palestina" (Fazi, 2008) erschienen ist. Mit seiner unaufgearbeiteten Vergangenheit hat Israel eigentlich nichts zu feiern, zudem dieses System auch laufend neue Gewalt produziert. Sinnfälligstes Symbol dafür: die Mauer, die Israel gegen das von ihm besetzte Westjordanland hochgezogen hat, genau betrachtet ein Mahnmal gegen Vertreibung.

SALTO,21.4.2018



Lanciata l’Iniziativa dei cittadini europei „Minority Safepack“

Un milione di firme per salvare il pluralismo linguistico d’Europa

Nei 47 Stati sovrani d’Europa (inclusa la Turchia) vivono circa 340 minoranze etno-linguistiche autoctone che insieme contano più di 100 milioni di persone. Perciò ogni settimo cittadino europeo fa parte di una tale minoranza autoctona. All’interno dell’UE, oltre le 24 lingue ufficiali, esistono più di 60 lingue regionali e di minoranza, parlate da 40 milioni di europei.
L’Unione federalista delle nazionalità europee (FUEN) di cui fa parte anche la SVP, ha appena lanciato un’Iniziativa dei Cittadini europei (ICE), l’iniziativa singola delle minoranze etniche d’Europa più importante degli ultimi decenni, afferma la FUEN. L’obiettivo principale di quest’ICE è quello di obbligare l’UE di prestare più attenzione ai problemi delle minoranze. Entro un anno per quest’ICE dovranno essere raccolte un milione di firme provenienti da almeno 7 paesi membri, affinché l’UE avvii nuove misure a favore delle lingue e culture minoritarie. Questo pacchetto definito “Minority Safepack” è un insieme di interventi e atti giuridici (norme comunitarie) per proteggere e promuovere le lingue minoritarie, tutte di competenza dell’UE. La FUEN con questa iniziativa vuole e garantire un altro standard di protezione tutti i paesi membri.
Alcuni membri fondatori della FUEN, tra cui l’alleanza democratica degli Ungheresi della Romania, la SVP, la Comunità tedesca del Belgio, i giovani della FUEN, avevano preparato l’iniziativa bel 2011, che poi è stata ripresa da un comitato di promotori di alto rango, tra cui anche Luis Durnwalder. All’inizio dell’aprile 2017 l’ICE sulle minoranze è stata dichiarata ammissibile e da subito può essere firmata da ogni cittadino UE online. Ecco il sito della campagna per ulteriori informazioni e quella della Commissione europea per la firma online.


Minority SafePack Initiative – Sito della campagna (Iniziativa dei cittadini europei) http://www.minority-safepack.eu
Sito della Commissione europea per le Iniziative dei cittadini
https://ec.europa.eu/citizens-initiative/32/public/index.do?lang=de

SALTO, 6.7.2017


Flüchtlingskrise

Schutz für Syrer im eigenen Land

Die meisten Syrer, die jetzt in die EU strömen, sind nicht vor dem IS geflohen, sondern vor dem Krieg, den ein verbrecherisches Regime seit 2011 gegen die eigenen Bürger führt.
Der Westen, die EU, die UNO haben über vier Jahre vor allem zugesehen, wie Asad sein Volk bombardiert, waren nicht mal mehr gewillt, für die Kosten der Flüchtlingslager in den Anrainerstaaten Syriens aufzukommen. Dieses Desinteresse am Schicksal von Millionen von Syrern rächt sich jetzt mit dem Massenexodus, dessen Last vor allem Deutschland zu tragen hat. Der anvisierte Deal mit Erdogan, diesen Exodus in der Türkei zu stoppen, wird nicht aufgehen.
Vergangene Woche hat die EU-Spitze mit Erdogan Auswege aus der Flüchtlingskrise diskutiert. Die EU braucht derzeit die Türkei dringend, die sie ansonsten bei den Beitrittsverhandlungen auf „Bitte warten“ gesetzt hat. Der Plan: mit EU-Finanzhilfe sollen in der Türkei oder in „Pufferzonen“ auf syrischem Staatsgebiet große Flüchtlingslager geschaffen werden. Dann soll die Türkei zum „sicheren Herkunftsland“ erklärt werden. So könnten hunderttausende Syrer gleich an den Grenzen der EU ohne Missachtung asylpolitischer Grundprinzipien der EU wieder zurückgeschickt werden. Eine der Gegenleistungen an Erdogan: er will freie Hand in der Bekämpfung des kurdischen Widerstands, den er mit ähnlichen Methoden betreibt wie Asad seinen Krieg gegen die Opposition. Damit ist auch schon gesagt: die Türkei ist alles andere als ein sicheres Herkunftsland, hat Tausende von politischen Gefangenen, 20% der türkischen Staatsbürger, die in Deutschland Asyl beantragen, werden anerkannt.
Natürlich sind Verhandlungen mit der Türkei unvermeidlich, doch ein solcher Deal mit Erdogan bringt keine Lösung. Auch Oktavia Brugger hat mit ihren immer aufschlussreichen Kommentaren aus Istanbul diesen Aspekt nicht aufgezeigt. Eine Lösung für den derzeitigen Massenexodus von Syrern, die sich in der Türkei befinden, muss in Syrien gefunden werden, gegen das Asad-Regime und nicht auf Kosten der Kurden. Der Westen muss endlich Schutzzonen für die Zivilbevölkerung in Syrien schaffen, genauso wie in den 1990er Jahren für die Kurden im Irak gegen Saddam Hussein. Befreite Zonen gibt es bereits, vor allem im autonomen Gebiet der syrischen Kurden, genannt Rojava. Dieses befreite Gebiet wird vom Westen nicht wirklich unterstützt und von der Türkei völlig im Stich gelassen. Schutzzonen könne auch in den von der Freien Syrischen Armee gehaltenen Gebieten errichtet werden. Schutzzone bedeutet vor allem Flugverbotszone, bedeutet auch aktiven militärischen Schutz nicht nur gegen den IS, sondern auch gegen die russischen Komplizen Asads.
Angela Merkel hat in ihrem Interview mit Anne Will vergangenen Mittwoch die deutsche Öffentlichkeit daran erinnert, dass – wie damals im Bosnienkrieg – die meisten Kriegsflüchtlinge in ihrem Heimatland bleiben möchten und würden, wenn sie nur sicher wären. Sicherheit in Syrien bedeutet vor allem Sicherheit vor Asad, dann erst vor dem IS. Sicherheit erfordert ein friedensschaffendes Eingreifen der Staatengemeinschaft zum Schutz der Zivilbevölkerung. 70% der Bosnienflüchtlinge sind nach dem Krieg aus Deutschland wieder in ihr Land zurückgewandert. Man kann aus dem Bosnienkrieg auch lernen, wirksam einzugreifen, bevor weitere 200.000 Menschen ermordet worden sind, die halbe Bevölkerung vertrieben worden ist, und Asad, Putin und der Iran ihr menschenverachtendes Spiel zu Ende gebracht haben.

SALTO, 12.10.2015


Syrien

„Rote Linien“ ohne Schiedsrichter

Was taugen eigentlich „rote Linien“ und wie werden sie gezogen? In Syrien haben USA, das Vereinigte Königreich und Frankreich wieder mal kurz eingegriffen, um die Gültigkeit einer solchen zu markieren. Doch wird dies allein die Kriegsverbrechen beenden?

Responsibility to Protect, die Verantwortung der „Staatengemeinschaft für den Schutz“, das war in der internationalen Politik und Wissenschaft seit den 1990ern diskutiert worden. Die Völkermorde in Bosnien-Herzegowina 1992-1995, in Ruanda 1994 und die Vertreibungsverbrechen im Kosovo 1998-99 hatten diese Diskussion befeuert, weil die „Staatengemeinschaft“ einer solche angemahnten Verantwortung nicht (Ruanda), nur verspätet (BiH) oder zögerlich (Kosovo) nachgekommen waren. In Syrien und im Jemen spielt sich seit Jahren dasselbe ab: die in der UNO institutionalisierte Staatengemeinschaft hat sich von ihrer Schutzverantwortung für die Zivilbevölkerung und für die Sanktionierung grober Völkerrechtsverletzung längst verabschiedet. Schurkenstaaten wie Russland und die Türkei brechen laufend internationales Recht (Afrin, Irak, Krim, Ukraine, Giftgasanschlag in England), blockieren dann aber den Sicherheitsrat, der dann nicht mal mehr Chemiewaffeneinsatz ahnden kann.
Chemiewaffen dürfen aber laut Chemiewaffenkonvention vom 29.4.1997 nicht mehr entwickelt, produziert und eingesetzt werden. Fast die ganze Welt außer drei Staaten ist diesem Abkommen beigetreten, das die Vernichtung aller Chemiewaffen binnen 2012 vorsieht, u.a. Syrien am 14.9.2013. Eine eigene UN-Institution, die OPCW, überwacht die Einhaltung dieser Konvention. Wenn der wiederholte Einsatz von chemischen Waffen durch einen notorischen Kriegsverbrecher wie Asad keine Folgen, hat ist das der Bankrott von Abrüstungsabkommen. Wenn derartige „rote Linien“ nicht von jenen sanktioniert werden, die die Mittel dafür haben, kann man es gleich lassen. Dann regiert nur mehr der Zynismus der Kremlherren und ihrer Marionetten in verschiedenen Ländern. Heute bezichtigen diese die USA, mit ihrem Schlag gegen Asads Chemiewaffenlabors die Souveränität Syriens und das Völkerrecht verletzt zu haben. Ohne russische Unterstützung hätte das Asad-Regime nicht 400.000 Landsleute massakrieren können. Die Bombardierung von syrischen Städten durch russische Kampfjets und der Einsatz von Chemiewaffen gegen die Bevölkerung verletzt dagegen aus der Sicht der Kreml-Schurken kein Völkerrecht, weil ja vorab die Einladung durch Asad erfolgt ist.
Der sehr begrenzte Angriff der USA, Großbritanniens und Frankreichs auf Asads Chemiewaffenlager ist zwar mehr als berechtigt, aber auch nicht das, was „responsibility to protect“ ursprünglich bezweckte. Denn der Schutz der syrischen Zivilbevölkerung vor dem konventionellen Vernichtungsfeldzug ihres Staatschefs war dem Westen bisher kein so wichtiges Anliegen, mit Ausnahme der Bekämpfung des IS. Man hat das Feld weitgehend Russland, Iran und der Hisbollah überlassen und neuerdings auch der Türkei. Nur in Syrisch-Kurdistan haben die USA einen direkten Fuß im Territorium behalten. Wie zwiespältig dieses Engagement der Amerikaner ist, kann man daran erkennen, dass die Türkei folgenlos die ganze Region Afrin besetzen konnte. Zwar eine Staatsgrenze, aber keine rote Linie war mit diesem Angriffskrieg mit schon erfolgter ethnischer Säuberung überschritten worden.
Von einer echten Schutzverantwortung für die Zivilbevölkerung sind wir somit noch weit entfernt, was auch aus der dramatischen Lage im Jemen ersichtlich ist. Es macht für die Syrer keinen großen Unterschied, an Chlorgas zu ersticken oder von Fassbomben verbrannt zu werden. Einige tausend Syrer sind Opfer von chemischen Waffen geworden, doch das von Iran, Russland und der Hisbollah gestützte Asad-Regime ist verantwortlich für über 400.000 „konventionell Getötete“. Es muss endlich ein völkerrechtlich begründetes Recht auf Intervention geschaffen werden, das bei solchen Verbrechen rasch und wirksam schützt unabhängig von der Art der eingesetzten Waffen. Asad hätte seit Beginn des Kriegs gegen die eigene Bevölkerung vor sieben Jahren einem in Stufen gestaffelten Sanktionsprogramm unterworfen werden müssen: Einstellung von Waffenlieferungen, Wirtschaftssanktionen, Flugverbotszonen bis hin zu den 2017 und eben jetzt ergriffenen Maßnahmen. Ansonsten sehen sich solche Regimes ermuntert, mit dem Rückhalt erbarmungsloser Komplizen in ihren Verbrechen fortzufahren, bis alle aufgeben, die noch nicht geflohen sind.
Insofern lässt sich feststellen, dass dieser Schlag gegen Asads Chemiewaffen spät kommt und zu wenig bewirkt. Die USA haben nur die Botschaft ausgesandt: halt, wir sind auch noch da. Aber wie und wofür? Ungeheures Leid ist in Syrien angerichtet worden ohne dass die Staatengemeinschaft eingeschritten wäre, und schon morgen wird Asad auf seiner Linie weitermachen, nur eben streng konventionell.

SALTO, 15.4.2018

Türkei

Unterwegs zum autoritären Staat von Erdogans Gnaden

In der Türkei geht die Rede von der Wiedereinführung der Todesstrafe. Sollte sie kommen, droht die EU mit Aussetzung der Beitrittsverhandlungen. Und die Kurden?

Die Wiedereinführung der seit 2003 in der Türkei abgeschafften Todesstrafe wäre nur der Tropfen der das Fass zum Überlaufen bringt. Ein Akt, der das schon laufende staatliche Töten halt legalisiert. Denn in der Praxis gibt es heute schon extralegale Tötung von Oppositionellen aller Art durch das Regime. Im Zuge der blutigen Unterdrückung des Aufstands kurdischer Jugendlicher in Türkisch-Kurdistan sind laut Türkischer Menschenrechtsstiftung seit August 2015 338 Zivilisten umgekommen. Die tatsächliche Opferzahl soll viel höher liegen. Die Gewalt der Spezialeinheiten von Polizei und Militär gegen unbewaffnete Zivilisten und einige bewaffnete Jugendliche war völlig überzogen, eigentlich ein Krieg.
Etwa 15.000-20.000 Soldaten haben ganze Stadtviertel in Silopi, Sirnak, Cizre, Yüksekova, Diyarbakir usw. mit schweren Waffen beschossen und anschließend Haus für Haus zerstört. Eine Form der Repression, die von Israel übernommen worden ist. Demonstranten und jugendliche Aufständische sind zur Tötung freigegeben worden. Mit Kampfpanzern sind mehr als ein Dutzend Städte zerstört worden, eine Million Menschen obdachlos und zu Vertriebenen in der eigenen Heimat geworden. Mit solchen Politikern nehmen dann EU-Regierungschefs am nächsten Tag auf goldenen Thronsesseln Platz, um über die Flüchtlingsfrage zu verhandeln oder begrüßen sie auf NATO-Gipfeltreffen.
Erdogan hat schon im März 2015 jeder konstruktiven Lösung der Kurdenfrage in der Türkei den Rücken gedreht. Die Verhandlungen zwischen der Regierungspartei AKP und der Kurdenpartei HDP waren damals mit einem 10-Punkte-Programm abgeschlossen worden, die der Machthaber nicht anerkannt hatte, im Gegenteil. Er ordnete aus seinem Machtkalkül heraus neue Angriffe auf die PKK an, Polizeiwillkür gegen Kurden nahmen zu und nach dem Wahlerfolg der PKK schritt Ankara zur Eskalation der Gewalt in den kurdischen Städten. Damit hat Erdogan schon ein Jahr vor dem Putsch von voriger Woche gegen die Kurden der Türkei eine Gewaltkampagne sondergleichen eröffnet. Unter den jetzigen Bedingungen der systematischen „Säuberung“ des Staats von allen irgendwie nicht linientreuen Personen kann dies nur noch schlimmer werden.
Nachdem die Immunität der HDP-Abgeordneten aufgehoben ist, drohen ihnen Verhaftung und Gefängnis. Die kurdisch verwalteten Kommunen werden vermutlich unter staatliche Aufsicht gestellt. Die Millionen von verfolgten Kurden der Türkei wird die Androhung der Todesstrafe nicht sonderlich beeindrucken, sie leiden heute schon unter massivem Staatsterror mit extralegaler Tötung. Bemerkenswert, dass Mogherini und Co. jetzt mit Aussetzung der Verhandlungen mit der Türkei drohen, während der seit einem Jahr andauernde Staatsterror gegen die Kurden der EU keine solche Drohung wert ist.
Hier kann ein Appell an die EU unterzeichnet werden, der die EU auffordert, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sofort aussetzen. Sie muss entschlossene Schritte unternehmen, um sicher zu stellen, dass Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei gewahrt werden. Mögliche Maßnahmen können unter anderem sein, eine EU-Beobachtermission zu entsenden, die die Entwicklung der Grundrechte und des Rechtsstaats verfolgt. Es gilt die türkische Zivilgesellschaft zu stärken, aber auch den Dialog mit der türkischen Regierung über Verbesserungen der Lage aufrecht zu erhalten.

SALTO, 21.7.2016



Demonstration in Bozen

Gegen den türkischen Angriffskrieg gegen die Kurden in Syrien

Warum darf ein NATO-Mitglied eine ethnische Minderheit in einem anderen Staat mit Bomben überziehen? Warum toleriert Europa Erdogans Staatsterror gegen die Kurden, nicht nur im Innern, sondern jetzt auch in Syrien?

Seit einigen Tagen beschießt die Türkei die von Kurden bewohnte Gegend von Afrin in Nordsyrien. Vor allem in den Ortschaften Shayk al Hadid, Derbalout, Hammam, Freryie, Sanare und Qarmitlike gibt es schon zahlreiche Opfer, wie die GfbV vermeldet. Die Türkei rechtfertigt die Angriffe damit, dass die Kurdenmilizen die Türkei angegriffen hätten. Das erinnert an den 1. September 1939 in Oberschlesien: „Seit heute wird zurückgeschossen.“ Dass die syrischen Kurden, die unter ständiger Bedrohung des IS und anderer islamistischer Milizen stehen, ausgerechnet die Türkei provozieren will, ist eigentlich lächerlich.
Klar ist hingegen, dass die Türkei den Aufbau einer autonomen Region der Kurden in Nordsyrien verhindern will. Doch mit welchen Recht? Erdogan hat schon mehrfach Präventivschläge gegen die Kurden Syrien angedroht, die bisher indirekt über eine totale Grenzblockade und die Förderung des IS-Terrorismus bekämpft hat. Doch Rojava ist ein demokratisches Experiment in einer trostlosen Szenerie von Gewalt, eine multiethnische autonome Region innerhalb Syriens, die die Türkei nicht bedroht. Hier sorgt die Türkei neben dem Staatsterror von Assad für die nächsten Massaker und Flüchtlingsströme im Rahmen ihrer katastrophalen Kurdenpolitik.
Wie kann die EU mit einem solchen Staat zusammenarbeiten, der drei Milliarden Euro für Flüchtlingshilfe kassiert, das aber nicht umsetzt, sondern Munition beschafft, um Kurden im Ausland zu beschießen? Wie kann die NATO einen Staat als Mitglied dulden, der ungestraft – 100 Jahre nach dem Völkermord an den Armenieren – die nächsten Kriegsverbrechen in derselben Gegend betreibt? Dagegen protestieren morgen, Samstag, 27.2., 15 Uhr, auf dem Rathausplatz in Bozen die in Südtirol lebenden Kurden und Kurdinnen. Alle sind zur Teilnahme aufgerufen!

SALTO, 26.2.2016

Jahrtag

70 Jahre Genozid-Konvention

Die Überreichung des Friedensnobelpreises am 10.12.2018 erinnert auch an die Menschenrechtserklärung von 1948, doch kaum bekannt ist die einen Tag vorher beschlossene
UN-Konvention gegen den Völkermord.

Die „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords“ ist von der Generalversammlung der VN als Resolution 260 A (III) am 9.12.1948 beschlossen worden und 1951 in Kraft getreten. 147 Staaten haben sie ratifiziert. Zahlreiche Unterzeichnerstaaten haben sie allerdings wiederholt und massiv verletzt. Durch diese 70 Jahre zieht sich eine breite Blutspur von Völkermordverbrechen bis heute, wo Saudi Arabien mit US-Kampfbombern Krankenhäuser und Schulen im Jemen bombardiert und das Assad-Regime mit russischer und iranischer Unterstützung ganze Städte plattbombt.
Mit dieser Konvention hat sich die Staatengemeinschaft eigentlich in die Pflicht genommen, Genozid zu verhindern. Tatsächlich ist das in Form der „humanitären Intervention“ mit militärischen Mitteln selten geschehen. Im Gegenteil: Genozidverbrechen werden durch Waffenlieferung und politische Allianzen geradezu befeuert und das auch seitens der NATO. So hatte die NATO nichts dagegen einzuwenden, dass ihr Mitglied Türkei im Februar-März 2018 die syrische Region Afrin eroberte, die kurdische Bevölkerung kurzerhand vertrieb und seitdem besetzt hält und kolonisiert. Die in Sachen Menschenrechtsschutz komplett unglaubwürdige USA hatten nichts dagegen, dass ihr Verbündeter Saudi Arabien versucht, den Jemen auszuhungern, vielmehr hat die Trump-Regierung 2017 einen 110-Milliarden-Dollar-Waffendeal mit Riad abgeschlossen. Völkermord ist zwar oft ins nationale Strafgesetzbuch aufgenommen worden, dennoch können unsere Regierungen Genozidverbrechern in aller Welt ungestraft Waffen liefern.
Völkermordverbrechen, angeordnet von Staatschefs, Diktatoren, und anderen Machthabern, sind in der Regel straflos und ungesühnt geblieben. Kein US-Präsident ist für den 100.000fachen Mord an der vietnamesischen Zivilbevölkerung je angeklagt worden. Doch gab es vor 20 Jahren einen ersten wichtigen Schritt, diese Folgenlosigkeit bei Genozidverbrechen zu beenden. Der 1998 eingerichtete Internationale Strafgerichtshof IStGH sollte weltweit Völkermordverbrechen ahnden, indem die direkt Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Das geschah mit einzelnen Kriegsverbrechern des ex-Jugoslawien-Konflikts, des Ruanda- und Kongo-Kriegs. Am 16.11.2018 wurden zwei hochrangige Führer der Roten Khmer wegen Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt, nach 40 Jahren. Der IStGH hat heute 123 Mitglieder, doch die mächtigen Staaten USA, Russland, China, Türkei, Israel sind wohlweislich fern geblieben.
Wird Genozid nicht geahndet oder gar nicht einmal von den Verantwortlichen anerkannt, wird das Verbrechen nicht aufgearbeitet. So hat die Türkei den 1915-16 an den Armeniern begangenen Völkermord nie offiziell eingestanden. So kann Erdogan heute die Unterdrückung von Millionen von Kurden im eigenen Staat und den Aggressionskrieg gegen Afrin als nationale Verteidigung darstellen, befindet sich aber in Kontinuität zu den Verbrechen des Atatürk-Regimes vor 100 Jahren.
Nach dem Völkermord in Ruanda 1994 und dann in Bosnien-Herzegowina war die Staatengemeinschaft aufgerüttelt worden, die Völkermordskonvention von 1948 ernster zu nehmen. Bei der UN-Generalversammlung von 2005 erklärten 190 Mitgliedsländer ihre Bereitschaft, Verantwortung zum Schutz der Zivilbevölkerung bei kriegerischen Auseinandersetzungen zu übernehmen. Seit 2005 sind insgesamt über 600.000 Zivilisten bei Kriegen getötet und Millionen vertrieben worden. Ganz klar, heute muss die UN, neben dem IStGH, weitere und wirksamere Maßnahmen ergreifen, um Völkermord nicht nur im Nachhinein zu ahnden, sondern im Vorfeld zu verhindern.

SALTO, 8.12.2018


Der säkulare Staat: immer noch keine Selbstverständlichkeit

In Österreich wird es künftig Richtern, Rechtsanwälten, Beamten in Ausübung ihres Amtes untersagt sein, in Ausübung ihres Amtes ein Kopftuch zu tragen. Rund 2000 muslimische Frauen haben in diesen Tagen in Wien vehement dagegen protestiert, schon fast so erbost wie manche Obertiroler bei uns fürs Kruzifix im öffentlichen Raum. Der ägyptische Politikwissenschaftler Hamed Abdel-Samad widerspricht jenen Musliminnen, die den Schleier als Zeichen der Selbstbestimmung der Frauen anpreisen.

von Hamed Abdel-Samad
Wann sind schon muslimische Frauen auf die Straße gegangen, um gegen Zwangsverheiratung zu protestieren, gegen Ehrenmorde, Genitalverstümmelung bei Mädchen oder gegen die Apartheid in den Moscheen? Wann sind sie schon auf die Straße gegangen, um sich mit ihren Schwestern solidarisch zu zeigen, die in Saudi Arabien oder im Iran ausgepeitscht werden, nur weil der Schleier am Kopf verrutscht ist?
Sie ziehen es vor, für den Schleier zu demonstrieren, ein Symbol sozialer und politischer Unterwerfung und Herabwürdigung der Frau. Diese Musliminnen sind wütend, weil eine verschleierte Frau jetzt in Österreich nicht mehr Richterin werden kann. Doch sie entrüsten sich nicht über die Tatsache, dass im Islam vor Gericht nicht als Zeugin auftreten darf, es sei denn ihre Aussagen werden von einem weiteren Zeugen bestätigt. Genau wie die islamische Theologie den Frauen die Pflicht zur Verschleierung auferlegt, vertritt sie die Auffassung, dass ein Volk, das von einer Frau geführt wird, niemals Erfolgt haben wird. Niemals solle eine Frau als Richterin akzeptiert werden, denn es fehle ihr das psychische und physische Gleichgewicht dafür.
Die Frauen, die in Wien demonstrierten, versuchen, den Schleier als Zeichen der Emanzipation und Selbstbestimmung darzustellen und bringen ihre kleinen Töchter dazu, auch schon einen Schleier zu tragen. Diese Mädchen werden dann in einigen Jahren in Talkshows auftreten und ganz selbstbewusst behaupten, sie trügen den Schleier freiwillig.
Wer meint, diese Frauen seien ganz spontan und frei auf die Straße gegangen, nicht vielmehr unter Druck des politischen Islam und ausländischer Regierungen, dem ist nicht zu helfen. Wer meint, das seien selbstständige Frauen, die für ihre individuelle Freiheit kämpfen, der hat entweder eine Gehirnwäsche erlitten oder ist politisch genauso ferngesteuert wie diese Frauen. Der Schleier bedeutet einzig und allein das: die Frau ist ein Sexualobjekt und soll nicht mit ihrer Schönheit die Männer ablenken. Das ist eine Entmündigung sowohl der Frauen als auch der Männer! Wer den Schleier als Symbol des empowerment der Frauen verkaufen will, hat etwas ganz anderes im Sinn (Übersetzung ins Italienische: Cinzia Sciuto, Übersetzung ins Deutsche: Thomas Benedikter).

Soweit Abdel-Hamad zu einem umstrittenen religiösen Symbol in staatlichen Einrichtungen. Fazit: der säkulare Staat, große Errungenschaft Europas, das schon seit Jahrhunderten nicht mehr nur christlich ist, hat immer noch zu kämpfen. In Wien wie in Südtirol scheinen viele Menschen einfach nicht wahrhaben zu wollen, was Trennung von Staat und Religion bedeutet.


Selbstbestimmung in Afrika

Vor 50 Jahren: Biafra

Biafra: wem sagt dieser Name heute noch etwas? Heute vor 50 Jahren wagte es dieses Land, die von den Kolonialmächten gezogenen Grenzen in Frage zu stellen und politische Gleichberechtigung zu fordern. Am 30. Mai 1967 erklärte Oberst Emeka Ojukwu, Gouverneur der Ostregion, die Eigenständigkeit seines Territoriums, genannt Biafra. Er tat dies, weil die Regierung in Lagos das Abkommen von Aburi vom Jänner 1967 nicht eingehalten hatte. Demgemäß hätte Nigeria in eine Konföderation umgewandelt werden müssen. Vorausgegangen waren dem Konflikt Pogrome an den christlichen Igbo mit tausenden Toten. Die Regierung war zu keiner Verhandlungslösung bereit, sondern überzog Biafra mit Krieg.
Für Biafra traten damals Frankreich, China, Israel, Portugal, Südafrika, Rhodesien und der Vatikan ein. Andererseits unterstützten die USA und die Sowjetunion, Großbritannien, Spanien und Polen Nigeria massiv mit Waffen. Nigeria blockierte jede humanitäre Hilfe, mit katastrophalen Folgen für Biafra. Über zwei Millionen Menschen starben an Hunger und in den Kämpfen. Anders als Vietnam spaltete Biafra die 68er-Bewegung, weil die Fronten quer zum Ost-West-Konflikt verliefen.
Am 15. Jänner 1970, nach 30 Monaten Krieg, kapitulierten die Truppen Biafras. Das Land wurde Nigeria einverleibt, sein Name ausradiert. Nigeria behielt seine von den Briten geerbten Staatsgrenzen. Wenige kennen heute die Hausa, Fulbe, Yoruba, Ijaw, Igbo. Man kennt in Europa nur Nigerianer (oder halt Senegalesen, Äthiopier, Sudanesen usw.). Die historische und ethnische Realität Afrikas versteckt sich hinter dieser kolonial gezeichneten Staatenaufteilung. Nach der Entlassung der meisten afrikanischen Länder in die Unabhängigkeit 1960-62 markiert Biafra die andere Seite des Selbstbestimmungsrechts und seiner Unterdrückung. Biafra sagte Nein zur zentralistischen Organisation Nigerias und beharrte auf einer Föderation. Dieser Widerstand wurde in Blut und Hunger erstickt, so wie später größere und kleinere Selbstbestimmungsbewegungen wie etwa in Äthiopien (Eritrea), Sudan (Südsudan), Kongo (Katanga) mit Millionen Opfern. Abgesehen von Sezession, die sicher für Afrika allgemein problematisch ist: es gibt in diesem riesigen Kontinent nur eine echte Territorialautonomie (Sansibar) und drei funktionierende Föderalstaaten (Nigeria, Äthiopien und die Komoren), während Somalia, der Sudan und Südsudan dies wohl auf dem Papier sind, kaum aber in der Realität. Der politische und gewaltsame Konflikt um Biafra ist übrigens immer noch nicht gelöst, wie die Gesellschaft für bedrohte Völker heute mitteilt.
Das Selbstbestimmungsrecht wurde in Afrika auf die Emanzipation von den Kolonialmächten eingeengt. Wer sich gegen die Unterdrückung durch die neuen Staaten auflehnte, konnte nicht mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft rechnen. Biafra warf einen düsteren Schatten voraus. Dabei hatte es nur ein föderatives Nigeria gefordert, was es heute ist. Unter dem Eindruck des Biafra-Kriegs (aber auch der Abspaltung von Bangla Desh von Pakistan) verabschiedeten die VN am 24. Oktober 1970 die „Erklärung über Grundsätze des Völkerrechts betreffend freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen“, eines der interessantesten und wichtigsten Dokumente zum Selbstbestimmungsrecht und Recht auf territoriale Integrität der Staaten überhaupt, wobei allerdings Letzteres den Vorrang zu haben scheint.

BBD, 30.5.2017


Italien muss die Migration in den Griff bekommen

„Migration ist das Paradigma der menschlichen Existenz, “ sagte der Iraker Adel Jabbar in einem kürzlich erschienenen FF-Interview und datiert den Beginn der Zuwanderung auf Adam und Eva zurück (die tatsächlich irgendwie religiös verfolgt waren). Jabbar, der klassische politische Flüchtling (vor dem Saddam-Hussein-Regime), bringt als eine seiner Hauptthesen, dass es überholt sei, zwischen wirtschaftlicher und politischer Migration zu unterscheiden. Diese „Erzählung“ ist zu oft wiederholt und zu selten begründet worden. Vielmehr muss man sogar unterscheiden, wenn man heutige Migrationsprobleme überhaupt noch lösen will.

Eine notwendige Unterscheidung
Die Grundlagen des modernen Asylrechts nehmen immer noch ganz klar Bezug auf persönliche Verfolgung aus politischen oder religiösen Gründen. Asylrecht für alle ist gleichbedeutend mit dem Recht jedes Menschen, überall zu leben, wo man eben zu leben wünscht. Eine schöne Utopie. Doch Hunderte von Asylkommissionen und Gerichte aller Instanzen in ganz Europa widerlegen diese These von Adel Jabbar tagtäglich, wenn sie Asylrecht oder humanitär-subsidiären Schutz zuerkennen oder nicht. 2016 wurden 60% der Asylanträge in Italien abgewiesen, im Bezirk Verona waren es fast 90% (FF Nr. 22/2017). Ganz unbedarft werden diese Richter nicht sein. Weder Italien noch die EU sind verpflichtet, allen Notleidenden dieser Welt Asyl zu gewähren.
Könnte man diese Unterscheidung nicht treffen, wäre dies der Bankrott des Asylrechts. Weder die Genfer Konvention von 1951 noch die italienische Verfassung noch die Dubliner Abkommen zwingen Italien, diese Unterscheidung zu unterlassen. Andererseits wird das Asylrecht in Europa heute massenhaft missbraucht, weil es als Recht auf illegale Einwanderung aus Arbeitsgründen verstanden wird. Doch weder muss noch kann Italien unbegrenzt Migranten aufnehmen, weil in deren Heimatländern Korruption und Armut herrscht. Das Asylverfahren ist nicht geschaffen für diese Aufgabe. Alle Probleme sind längst bekannt: die Verfahren dauern viel zu lange, die Antragsteller hängen 1-2 Jahre nutzlos auf Kosten der Aufnahmeländer herum, es werden kaum Rückführungen durchgeführt. Diese Praxis hat bei Millionen junger Arbeitslosen im Afrika die Erwartungshaltung geschaffen, frei nach Italien und in die EU einwandern zu können. Ein Teil davon steht schon am südlichen Mittelmeerufer, um sich dem nächsten Schlepper anzuvertrauen und ihr Leben als „Eintrittskarte“ in die EU zu riskieren. Nachdem die Grenzen Richtung Nordeuropa dicht sind und das gemeinsame europäische Asylsystem (GEAS) der EU nicht funktioniert, staut sich der Strom in Italien. Und damit ist das Land überfordert.
Italien hat auch gemäß internationalen Konventionen das Recht, zwischen politischem Asyl und wirtschaftlicher Migration zu unterscheiden. Adel Jabbar irrt: tut Italien das nicht, ist selbst den Bootsmigranten nicht geholfen: sie werden sich als neues Subproletariat in urbanen Ghettos mit Betteln und Schwarzarbeit durchzuschlagen haben und unvermeidlich Xenophobie auslösen, von der es ohnehin schon zu viel gibt. Abgesehen vom humanitären Schutz für Kriegs- und Katastrophenflüchtlingen muss das Asylrecht wieder seinem eigentlichen Ziel dienen, bevor es gänzlich diskreditiert ist. Zwei Beispiele zeigen, wie es anders geht.

Beispiel Spanien
Spanien hat in den letzten Jahren den Migrantenstrom aus Westafrika erfolgreich reduziert und empfiehlt die Methoden der EU. Es geht um eine Kombination aus Blockade der Fluchtrouten, schneller Abschiebung illegaler Einwanderer und finanzieller Unterstützung der Herkunftsländer. Schon 2006 hat Spanien damit begonnen, als noch 32.000 afrikanische Migranten ankamen, 2015 hat Spanien nur mehr 4.200 Bootsmigranten registriert (Italien 2016: 183.000).
Für Spanien ist dieser Rückgang eine positive Entwicklung, denn es leidet unter hoher Arbeitslosigkeit. Vor 10 Jahren landeten noch unzählige Schlepperboote auf den Kanaren. Tausende sollen ertrunken sein, wie derzeit im Mittelmeer zwischen Libyen und Italien. Spanien begann dann zusammen mit FRONTEX und der lokalen Polizei die Küsten zu patroullieren und Schlepperboote sofort an der Küste abzufangen. Nach Fluchtgründen wurde dabei nicht gefragt, was rechtlich auch weiter nicht belangt wurde. Diese Strategie zur Begrenzung der Bootsmigranten funktionierte.
Mit militärischer und finanzieller Hilfe konnte Spanien die westafrikanischen Regierungen, vor allem Marokko, Mauretanien und Senegal, zur Zusammenarbeit bewegen. In diesen Ländern liefen massiv Spots, um vor den Risiken einer Migration zu warnen. Gleichzeitig wurden mit jenen Ländern Abkommen zur schnellen Rückführung von Illegalen ausgehandelt. Spanien bringt abgelehnte Asylbewerber tatsächlich zum Großteil zurück und ist heute kein bedeutendes Einfallstor für Bootsmigranten nach Europa mehr. So hat Spanien im Unterschied zu Italien auch keine massenhafte Migration etwa aus Gambia, ein gar nicht so armes, jetzt wieder demokratisches Land in Westafrika. Als politisches Thema spielt die Migration in Spanien eine untergeordnete Rolle. Ausländerfeindliche Parolen rechtspopulistischer Parteien sind dort im Unterschied zu Italien unbedeutend.

Schweden stößt an die Grenzen der Integration
Die Grenzen der Integration zeigt das Beispiel Schweden. Schweden galt lange als das asylfreundlichste Land Europas. Noch 2015 war es neben Deutschland jenes Land, das pro Kopf der Bevölkerung am meisten Asylbewerber aufnahm (162.000; Italien: 183.000 Neuzuwanderer 2016)). 2015 hatte Schweden mit 8% den höchsten Anteil von Flüchtlingen an seiner Bevölkerung in ganz Europa. 2016 musste Schweden insgesamt 70.000 Asylsuchende unterbringen und zog die Notbremse: nur mehr 30.000 Zuwanderer stellten einen Asylantrag. Politische Kräfte gewannen immer mehr an Boden, die eine schärfere Kontrolle der Landesgrenzen und weniger illegale Migration forderten. Schwedens sozialdemokratische Regierung hat 2016 eine 180°-Wende in seiner Flüchtlingspolitik eingeleitet.
Die Schweden haben Milliarden für die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt ausgegeben. Doch, wie eine Untersuchung der OECD zeigte, fällt die Bilanz ernüchternd aus. Die teuren Investitionen erwiesen sich oft als ineffizient. Sprachkurse, Bewerbungstrainings, Praktika alles nur Denkbare bot der schwedische Staat zwecks rascher Integration in den Arbeitsmarkt auf. Die Ergebnisse für die gering qualifizierten Bewerber blieben bescheiden: ein Jahr nach Ende des Programms waren nur mehr 28% der Männer und 19% der Frauen beschäftigt. Auch in Schweden machen sich nun Ghettobildung und Perspektivlosigkeit unter den Ausländern breit. Nun will Schweden einfache Jobs wieder vorrangig an Arbeitslose und schon im Land lebende Flüchtlinge vergeben. Arbeitsmigration sollte auf jene Berufe beschränkt werden, in denen es Fachkräftemangel gebe.

Schlussfolgerung
Aus diesen zwei simplen Beispielen kann man für Italien Folgendes ableiten: zum einen ist eine unbegrenzte Aufnahme und Integration von Migranten für ein wirtschaftlich wenig florierendes, sozialstaatlich unzureichend organsiertes Land wie Italien nicht zu schaffen. Zum anderen ist eine Politik der Begrenzung der illegalen Migration in Zusammenarbeit mit Mittelmeeranrainerstaaten und Herkunftsländern möglich, rechtens und erfolgreich. Man kann lange auf ethisch-moralischer Grundlage streiten, wie viele Bootsflüchtlinge Italien aufnehmen muss. Doch auch migrationsfreundlichen Kreisen müsste klar geworden sein, dass es Italien gar nicht mehr schafft. Es sitzt heute in der Klemme zwischen einer hohen Zahl von Afrikanern, die schon unterwegs sind, und der blockierten EU-Asylpolitik, die eine Weiterverteilung in der EU bis auf Weiteres aussichtslos erscheinen lässt. Italien ist heute schon völlig überfordert: es schafft es nicht mehr, so viele Asylbewerber halbwegs würdig unterzubringen; es schafft es nicht, die Asylverfahren in vernünftiger Zeit abzuwickeln; es schafft es schon gar nicht, die Migranten auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt legal unterzubringen. Schließlich schafft es Italien auch nicht, die abgelehnten Asylbewerber in ihre Heimatländer zurückzubringen. Wer nicht unter zu starkem Realitätsverlust leidet, wird einsehen: es kommen zu viele in zu kurzer Zeit in völlig ungesteuerter Weise. Italien hat es nicht ganz so leicht wie Spanien, denn Libyen ist nicht Marokko, Nigeria ist nicht Senegal. Doch hätte Italien nicht längst schon das Beispiel der spanischen Migrations- und Flüchtlingspolitik ernsthaft prüfen müssen?

BBD, 13.6.2017


Die EU kann nicht bleiben, wie sie ist

Die Post-Brexit-EU: weniger, aber effizienter und demokratischer

Letzte Woche hat das Vereinigte Königreich formell den Brexit-Antrag gestellt und wird in zwei Jahren die EU nur mehr von außen betrachten. Dieser erste Austritt eines EU-Mitglieds ist ein Rückschlag fürs Einigungswerk EU, könnte ihr aber auch zu einem Neustart verhelfen, zumal die Briten sich oft genug als Integrationsbremser betätigt hatten. So geht es zunächst um die Konsolidierung der EU-27. Die „immer engere Union“ wie auch eine Erweiterung Richtung Osten oder Türkei dürfte dabei zunächst vom Tisch sein, auch wenn das viele nicht wahrhaben wollen. Eine Politik des „Weiter so, jetzt erst recht“ würde nur noch mehr Widerstand gegen noch mehr Union erzeugen.
Nach dem Brexit-Votum haben manche EU-Politiker und Journalisten verlautbart, die Engländer würden sich letztlich mit ihrem Austritt nur selbst schaden. Wer wieviel wovon gewinnen oder verlieren könnte, ist heute noch völlig im Nebel, doch hätten die Engländer dann die richtige Wahl getroffen, wenn die Kontinentaleuropäer sich als unfähig erweisen, den Euro neu auszurichten und die EU zu konsolidieren.
Die Ukraine- und Brexit-Krise wird die EU wohl überstehen, die Terror-Bedrohung und Flüchtlingsfrage mit neuen gemeinschaftlichen Ansätzen meistern müssen. Doch der Euro ist Teil des Grundgerüsts der Union, an dem immer mehr Neonationalisten und EU-Skeptiker rütteln. Nach Umfragen befürworten zwar in der Eurozone 70% der Bevölkerung den Euro, doch in Italien überwiegen die Gegner. Dies bestätigt die Nord-Süd-Divergenz im Eurosystem, die durch die Krisenpolitik der letzten Jahre verstärkt worden ist. Die Mittelmeer-Euroländer ziehen in eine andere Richtung als die nördlichen Euroländer. Deutschland und Italien stehen für diese Gegenpole unter den großen Mitgliedsländern, während Frankreich mal in die eine, mal in die andere Richtung zieht. Neustart der Gemeinschaftswährung würde bedeuten: keine Bailouts von Krisenländern und Banken mehr, keine Haftungsunion, keine Schuldenvergemeinschaftung, doch eine gemeinsame Geld- und Fiskalpolitik mit entsprechend effizienten, aber demokratisch legitimierten Entscheidungsprozessen im Euroland. Dies würde den Euro stabilisieren und die interne wirtschaftliche Anpassung in den Mitgliedsländern fördern, während der Austritt nur einen Abwertungswettlauf auslösen würde. Gleichzeitig würde dies auf politischer Ebene den neonationalistischen Bewegungen von Le Pen über die AfD bis zu Salvinis Lega den Wind aus den Segeln nehmen.
Die Nord-Süd-Divergenz in der Eurozone bedroht die EU von innen, ihre Überwindung ist entscheidend für die Konsolidierung der EU. Italien hat eine lange Erfahrung mit einem Nord-Süd-Gefälle und Millionen Italiener sind es leid, ihre Steuern in ein Fass ohne Boden zugunsten des Südens zu zahlen. In der Eurozone ist ganz Italien dieser „Süden“. Sollte hier keine Neuausrichtung im Eurosystem gelingen, wird der Marsch in eine immer engere Schulden-, Haftungs- Bailout- und Transferunion zu fortgesetzter Stagnation und allmählichem Niedergang führen. Dann könnten es sowohl die nördlichen wie die südlichen Euroländer sein, die die Auflösung der Währungsgemeinschaft wollen, und Europa würde in einen Flickenteppich mittlerer und kleinerer Nationalstaaten zurückfallen. Auch für Südtirol keine tröstliche Perspektive.
Jean-Claude Juncker hat in seinem Weißbuch zur Zukunft Europas vom März 2017 fünf Szenarien zur Weiterentwicklung der EU dargelegt. Die meisten Südtiroler, die sich traditionell eine tiefere Integration und einen Abbau der Nationalstaaten wünschen, werden auf Szenario 5 setzen, nämlich „Viel mehr gemeinsames Handeln“. Dies ist die optimistischste Variante, die am Vereinten Europa weiterbaut, wie es in den ersten 60 Jahren der EU mit Brüchen und Rückschlägen geschah. Doch auch Junckers Szenario 4 will gut bedacht werden, wenn man die EU konsolidieren will: „Weniger, aber effizienter“. Etwas weniger in Brüssel zu entscheiden, etwas mehr nach dem Subsidiaritätsprinzip zu verfahren und den Staaten und Regionen zu überlassen, könnte auch der Demokratie in der EU gut tun. Eine klare Aufteilung der Verantwortungen auf allen Ebenen, mehr Demokratie und Bürgerbeteiligung, die Neuausrichtung des Euro am besten mit grundlegenden Reformen des Geldsystems, das würde der EU bei Millionen Bürgern mehr Akzeptanz verschaffen und wäre ein wirksamer Gegenentwurf gegen rechtsnationale Ideen für ein Zurück zu mehr Nationalstaat.
Am Dienstag, 2. Mai 2017, 18-20 Uhr, diskutieren im Rahmen der POLITiS-Veranstaltungsreihe „Welches Europa wollen wir?“ zwei ehemalige Europaparlamentskandidaten zu diesen und ähnlichen Fragen: L.Abg. a.D. Pius Leitner und der Journalist Georg Schedereit. Die Veranstaltung „Ist das Integrationsprojekt EU gescheitert?“ in der Bibliothek Kulturen der Welt (Schlachthofstr. 50, Bozen) steht allen offen.

BBD, 25.4.2017


Diskussion der Initiative für mehr Demokratie über Sezession oder Europa

Das "Europa der Regionen" ist noch fern

Die Initiative für mehr Demokratie hat "Sezession oder Europa?" zum Thema gemacht. In Südtirol wird Sezession immer emotional aufgeladen, weil es selbst daran interessiert oder betroffen sein könnte. Doch ist Sezession zunächst ein relativ neutraler Begriff, der nur die Loslösung eines Gebietes von einem anderen umschreibt. Die Briten sehen das cooler, hat doch Premierminister Cameron ganz friedlich mit dem SNP-Chef Salmond 2012 vereinbart, am 18. September 2014 in einem Referendum zu klären, wie sich Schottland künftig zu Großbritannien stellen will.

Wenn die Unabhängigkeitsbefürworter unterliegen, wird es in GB so friedlich weitergehen wie bisher, oder so friedlich wie in Québec, als 1980 und dann wieder 1995 das Unabhängigkeitsreferendum knapp scheiterte. Wenn es gelingt, kehrt ein alter europäischer Staat, bis 1707 jahrhundertelang ein unabhängiges Königreich, auf die Bühne zurück, der sich paradoxerweise enger an die EU binden will als es heute die Engländer tun. Während England und nur England immer wieder mit dem Austritt aus der EU droht, hat die SNP nichts dergleichen im Sinn. Das angekündigte britische Referendum zur EU binnen 2017 könnte eine weitere Klärung zwischen nationaler Eigenständigkeit und weitergehender Integration in die EU bewirken.

Staat zu werden ist immer noch interessant

In einer Welt von Staaten bedeutet Staatlichkeit immer noch "internationale Rechtsfähigkeit". Erst als Staat hat eine territoriale Gemeinschaft auf ihrem Gebiet die volle Kontrolle, die sie freiwillig mit einem Staatenverbund teilen kann, etwa mit der EU. Oder auch nicht wie die Schweiz, Norwegen, Island. Erst als Staat hat sie alle Möglichkeiten des Völkerrechts. Verschiedene solcher territorialer Gemeinschaften haben in Europa Sezession angewandt, z.T. friedlich und einvernehmlich wie Montenegro, Mazedonien, die Slowakei und Tschechien; oder unter gewaltsamen Umständen wie im Kosovo, Transnistrien, Abchasien. Der Kosovo hat eine Form der Sezession geübt, die unter flächendeckender Vertreibung als Notwehr unvermeidlich geworden war. Der IGH hat diese Unabhängigkeit 2010 als "remedial secession" für völkerrechtlich legitim erklärt.
Dies trifft für die Ost-Ukraine und die Krim nicht zu. Der Staat mag in seiner Struktur und Umgang mit Minderheiten zwar äußerst reformbedürftig sein, doch die Annexion der Krim und die jetzt von Russland angefachten Sezessionsbestrebungen in der Ost-Ukraine sind eine pseudodemokratische Farce. Es gilt schon zu unterscheiden. Nicht die Loslösung eines Gebiets muss ein Trauma darstellen, sondern das Verfahren dafür. Nicht Kleinstaaterei ist eine Gefahr für Europa, sondern ein Zustand permanenter Missachtung von europäischen Grundregeln und Grundwerten: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz, die Achtung kultureller Vielfalt.

Europa oder Sezession?

Die Frage ist deshalb falsch gestellt. Solange die Welt in Staaten aufgeteilt, gleichzeitig aber das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Grundrecht festgeschrieben ist, werden Staatsgrenzen in Frage gestellt und Staaten in ihrem Bestand verändert werden. Die Vereinigung bestehender Staaten (1990 BRD und DDR, in Zukunft vielleicht Albanien und Kosovo, Moldawien und Rumänien usw.) ist genauso denkbar wie die Bildung neuer Staaten wie Schottland, Katalonien und Flandern. Ein weiteres Beispiel ist Neu-Kaledonien, eine echte autonome Region Frankreichs (im Unterschied zu Korsika). Die nordöstlich von Australien gelegene Insel kann ab 2014 in einem Referendum über die Unabhängigkeit oder den Verbleib bei Frankreich entscheiden.
Mit Kleinstaaterei hat das nichts zu tun. Ein unabhängiges Katalonien wäre bevölkerungsmäßig an 18. Stelle von dann 48 Staaten Europas. Die USA haben 50 Staaten, davon einige so klein wie Südtirol oder Trentino-Südtirol. Auch die EU mit 28 Mitgliedern verträgt noch einige Mitgliedsländer mehr. Worauf es wirklich ankommt ist Demokratie und Rechtsstaat als Pfeiler eines europäischen Gemeinwesens. Wird eine Sezession verfassungsrechtlich und völkerrechtlich ermöglicht und rechtsstaatlich geregelt abgewickelt? Ist der Referendumsprozess demokratisch einwandfrei? Werden alle Vorkehrungen für den Schutz von Minderheiten getroffen? Ist das Konzept gemeinschaftlicher Selbstbestimmung bei ethnisch gemischten Gebieten anwendbar? Unter diesen Umständen kann sich auch in Europa eine Region von einem Staat im Konsens trennen und in einer anderen Form, der gemeinsamen Mitgliedschaft in der EU, genauso gut, aber halt gleichberechtigt zusammenarbeiten wie vorher. In diesem Fall ist Sezession als Änderung des völkerrechtlichen Status eines Gebiets kein Trauma mehr, sondern ein Vorgang wie etwa in der Schweiz die Bildung eines neuen Kantons (was auch schon erfolgt ist).
Zum Trauma wird Sezession, wenn sie mit der Brechstange oder eben mit militärischer Gewalt erzwungen wird. Es liegen Welten zwischen Schottland, Katalonien und den Vorgängen in der Ukraine: die erzwungene Annexion der Krim, die Farce der Abstimmungen im Donetsk-Becken, die von Russland aufgerüsteten Separatisten, die sich gegen die staatliche Verfassung, Menschenrechte das Völkerrechts den Weg zur Abspaltung freischießen wollen - das hat nichts mit den demokratischen Bewegungen für Eigenständigkeit zu tun.

Die Staaten sitzen am längeren Hebel

Wir sind in Europa noch weit entfernt von einem "Europa der Regionen", einem Wunschbild, das immer wieder beschworen wird. Denn in der EU spielen die Regionen als eigenständige Ebene von legislativer und exekutiver Gewalt immer noch eine zu geringe Rolle. Die erste Geige in der EU spielen die Nationalstaaten, während die Regionen weder Stimm- noch Vetorechte haben, sondern nur einen Ausschuss, der manchmal gehört werden muss. In einigen größeren EU-Mitgliedsländern gibt es gar keine Regionen mit Gesetzgebungshoheit, also keine regionalen Demokratien. In verschiedenen Staaten Autonomieforderungen, die nicht erfüllt werden. Selbst Katalonien hat 2006 mit großer Mehrheit seines Parlaments und einer Volksabstimmung ein neues Autonomiestatut gutgeheißen, das vom spanischen Staat in wichtigen Teilen abgelehnt worden ist. Über die daraufhin erfolgte Wende bei den größten katalanischen Parteien braucht sich Madrid nicht zu wundern.
Die EU wird von Staaten getragen und darf sich in deren inneren Aufbau gar nicht einmischen. Es liegt an den Staaten, die Macht mit unteren Ebenen zu teilen, die Macht näher zu den Bürgern in ihren regionalen Gemeinschaften zu bringen: durch Dezentralisierung, Föderalsysteme, echte regionale Autonomie und einen Ausbau des Minderheitenschutzes. Die Staaten haben es als erste in der Hand, Sezessionsbewegungen vorzubeugen. Je weniger sie das tun, desto eher werden radikalisierte Teile von kleineren Völkern und Minderheiten eben Sezession und Selbstbestimmung verlangen.

BBD, 19.5.2014


Reagrupament Independentista legt Europäische Bürgerinitiative vor

EU-Mitglied bleiben auch bei Sezession von EU-Mitgliedsland?

Was geschieht mit der EU-Mitgliedschaft eines Teilgebiets der EU, das per Volksentscheid beschließt, aus dem derzeitigen Mitgliedsstaat auszuscheiden und einen neuen Staat zu gründen? Diese Frage werden sich die Schotten vor dem Unabhängigkeitsreferendum 2014 stellen, vielleicht in Zukunft die Flandern, sehr konkret auch die Katalanen. Nicht hingegen in Grönland, das mittelfristig die Unabhängigkeit anpeilt, aber schon 1979 per Volksabstimmung aus der EU, nicht aus Dänemark, ausgetreten ist. Sie kam aber auch vor einigen Monaten in Südtirol zur Sprache, als die Freiheitlichen ihr Freistaatsmodell samt Verfassung vorstellten. In Art. 11 dieses Entwurfs von Prof. Pernthaler gehen die Freiheitlichen davon aus, dass ein Freistaat die EU-Mitgliedschaft verlöre. SVP-Abg. Zeller kritisierte unter anderem diesen Umstand, der rechtlich gar nicht geklärt ist, mit der gravierenden Folge, dass ein unabhängiger Freistaat Südtirol wieder Jahre auf der Bank der Kandidaten mit Beitrittsverhandlungen verbringen müsste. Dabei hätte es auch die Frage des eventuellen Widerstand des "alten" Mitgliedsstaates Italien zu lösen, das nach geltenden EU-Verträgen ein Veto einlegen könnte.

Katalanische Unabhängigkeitsbefürworter haben die Frage als erste aufgegriffen. Am 1. April 2012 hat der "Reagrupament Independentista" als erste Kraft überhaupt in Brüssel eine Europäische Bürgerinitiative vorgelegt. Samit soll die Souveränität der Bürger eines neu gegründeten Staats innerhalb der EU gewährleistet werden, wenn sich ein Gebiet mit demokratischem Verfahren von einem bestehenden EU-Mitgliedsland loslöst. Joan Carretero, Präsident dieser katalanischen Unabhängigkeitskraft, legte diese EBI zusammen mit sechs weiteren Promotoren aus 6 weiteren Mitgliedsländern vor: aus Luxemburg, Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Finnland und den Niederlanden. Binnen Mai muss die EU-Kommission entscheiden, ob eine derartige EBI zulässig ist. Wenn ja, braucht es eine Million Unterschriften von EU-Bürgern innerhalb eines Jahres, die auch elektronisch gesammelt werden können. Die Unterschriften müssen zu einem festgeschriebenen Mindestmaß aus mindestens 7 Mitgliedsländern stammen. Wäre ein italienischer Staatsbürger Mitpromotor dieser EBI, müssten beispielsweise in Italien 56.000 Unterschriften gesammelt werden, etwa gleichviel wie derzeit für ein nationales Volksbegehren.

Die EU-Kommission würde dann aufgerufen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass einem aus Sezession entstehendem neuen Staat automatisch die EU-Mitgliedschaft erhalten bleibt. Die Achtung der Souveränität der Bürger wäre damit deshalb geachtet, weil die Bürger vermittelt oder direkt für eine Mitgliedschaft ihrer Region bei der EU gestimmt haben und mit der Sezession nur vom Mitgliedsstaat ausscheiden wollen.

Allerdings kann mit einer EBI keine Änderung am EU-Vertrag bewirkt werden. Die EBI ist weder eine echte Volksinitiative (mit nachfolgender Volksabstimmung, in diesem Fall EU-weit), noch eine Verfassungsinitiative (in diesem Fall eine "EU-Vertragsinitiative"). Sie ist zwar das erste transnationale Beteiligungsinstrument von Bürgern eines supranationalen Staatenbundes, aber doch nur ein Volksbegehren, das die EU-Kommission begründet ablehnen kann. Sie vermutlich auf den Art. 3a, P.2, verweisen, der da lautet: "Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt. Sie achtet die grundlegenden Funktionen des Staates, insbesondere die Wahrung der territorialen Unversehrtheit....". Zumindest wird es durch diese EBI zu einer rechtlichen Klärung der Zuständigkeit. Unabhängigkeitsbewegungen werden gut beraten sein, in Volksabstimmungen gleichzeitig mit der Sezession auch das künftige Verhältnis zur EU aufzurollen.

SALTO, 30.4.2012